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Einkommen: Wenn der Lohn nicht zum Leben reicht

Immer mehr Erwerbstätige sind auf Leistungen vom Staat angewiesen. Ein Ende des Trends ist nicht absehbar.

Berlin - Die größte Furcht Michael Sengers ist jeden Monat die gleiche: krank zu werden. Denn das bedeutet für den Berliner Briefzusteller (Name von der Redaktion geändert) weniger Geld. 100 Euro Prämie zieht ihm sein Arbeitgeber, der Postdienstleister Pin, von seinem Gehalt ab, wenn er zehn Tage krankgeschrieben ist. Nur ist der zweifache Vater auf dieses Geld angewiesen. Denn sein Brutto-Grundgehalt von 1290 Euro reicht ihm und seiner Familie nicht aus. „Jetzt habe ich mir ausgerechnet kurz vor Weihnachten eine langwierige Entzündung eingehandelt, und die Prämie fällt weg“, erzählt er. „Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als in diesem Monat noch Hartz IV zu beantragen.“

Nicht nur viele Mitarbeiter der Pin Group, die wegen der Einführung eines Post-Mindestlohns zum Jahreswechsel jetzt mit der Insolvenz droht (siehe unten), sind auf Hartz IV angewiesen. Auch aus anderen Branchen müssen immer mehr Menschen zusätzlich Geld vom Staat beziehen, weil ihnen der Lohn zum Leben nicht mehr reicht. Die neuesten verfügbaren Zahlen der Bundesagentur für Arbeit zeigen: Im Mai 2007 waren einschließlich der Mini-Jobber insgesamt rund 1,2 Millionen Hartz-IV-Bezieher erwerbstätig. Und der Anteil steigt: Seit 2005, als Hartz IV eingeführt wurde, wuchs die Zahl der Aufstocker bis Anfang dieses Jahres um knapp 400 000, wie eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigt. Ein ähnlicher Trend zeichnete sich in Berlin ab: Gingen im Mai 2006 noch knapp 42 000 Hartz-IV-Bezieher einer sozialabgabenpflichtigen Beschäftigung nach, hatte sich die Zahl bis Mai dieses Jahres auf 88 000 schon mehr als verdoppelt. Insgesamt waren damit rund sechs Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in Berlin zusätzlich Hartz-IV-Bezieher.

„Problematisch ist vor allem, dass die Zahl der Aufstocker, die eine vollzeitnahe Beschäftigung haben, besonders stark steigt“, sagt Wilhelm Adamy, Arbeitsmarktexperte im DGB-Bundesvorstand. Seinen Angaben zufolge waren im Mai 2007 bundesweit mit rund 370 000 in Vollzeit beschäftigten Aufstockern 100 000 mehr vom Staat abhängig als noch vor etwa zwei Jahren. „In diesem Aufschwung steigt die Zahl der erwerbstätigen Armen“, sagt Adamy. Besonders betroffen seien Beschäftigte in der Leiharbeitsbranche. „Etwa jeder achte Zeitarbeitnehmer ist ein Aufstocker“, sagt der DGB-Experte. Aber auch in der Gastronomie oder in Dienstleistungsberufen trete dieses Problem häufig auf. „Das liegt insbesondere daran, dass in diesen Branchen häufig sehr niedrige Löhne gezahlt werden und ein einziges Einkommen daher allein nicht zum Leben ausreicht.“

Das IAB kommt in seiner Langzeitstudie allerdings zu der Erkenntnis, dass die wenigsten Aufstocker langfristig von der Unterstützung abhängig sind. „Einmal Aufstocker heißt nicht immer Aufstocker“, sagt Helmut Rudolph vom IAB. So hat das Institut festgestellt, dass im Jahr 2005 zwar insgesamt 2,1 Millionen Menschen zumindest zeitweise zu ihrem Einkommen entsprechende Leistungen aus dem Sozialgesetzbuch II bezogen, jedoch nur 325 000 das gesamte Jahr über.

Für Hartmut Seifert, Arbeitsmarktexperte vom gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie- und Konjunkturforschung (IMK), ist die Aufstockerproblematik ein Beweis dafür, dass die Hartz-Regelung einen Konstruktionsfehler aufweist. „Die Hartz-Gesetze haben die Ausweitung eines Niedriglohnsektors stark begünstigt“, sagte Seifert dem Tagesspiegel am Sonntag. Denn Unternehmen könnten davon ausgehen, dass – auch wenn sie niedrige Löhne zahlen – der Staat die Gehälter aufstockt. „Aber es war nicht vom Staat geplant, ein Kombilohnmodell auf diese Weise einzuführen“, sagt Seifert. Das Problem werde zunehmen. „Es ist realistisch anzunehmen, dass es bei einer weiteren Erholung auf dem Arbeitsmarkt immer mehr Aufstocker geben wird“, warnt er – und fordert eine Überarbeitung der Hartz-Gesetze. „Der Staat muss sich überlegen, wie unser Erwerbssystem in Zukunft aussehen soll.“

Die Politik sieht keinen Handlungsbedarf. „Es ist doch besser, eine Arbeit im Niedriglohnbereich zu haben als keine“, sagte Ralf Brauksiepe, arbeitsmarktpolitischer Sprecher der Union. Zudem sei es schon vor der Einführung von Hartz IV so gewesen, dass Geringverdiener zusätzliche Sozialleistungen in Anspruch hätten nehmen können. „Nur lag die Schamgrenze damals höher, als Hartz IV noch Sozialhilfe hieß“, erklärt Brauksiepe den Anstieg der Aufstocker. Andrea Nahles, Vize-Parteivorsitzende der SPD, lehnt eine Korrektur ebenfalls ab. „Wenn man die Hartz-Regelungen ändert, nimmt man den Leuten ihr Existenzminimum weg“, sagte sie dieser Zeitung. „Was wir brauchen, ist ein flächendeckender Mindestlohn. Dieser würde die Aufstockerzahl drastisch reduzieren.“

In Michael Sengers Fall könnte das stimmen. Denn ab Januar 2008 gilt für Briefzusteller aller Voraussicht nach der jüngst beschlossene Post-Mindestlohn. „Und dann gibt es mehr Geld für uns“, sagt Sengers.

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