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Ein Jahr Finanzkrise: "Lehman war wie eine Rakete mit unwissender Besatzung"

Larry McDonald arbeitete im dritten Stock der Lehman-Zentrale, als die Bank unterging – und die Welt in die Krise stürzte. Jetzt erzählt er im Interview seine Geschichte.

Lawrence McDonald – genannt Larry - war Vice President bei Lehman Brothers. In seinem Buch "A Colossal Failure of Common Sense: the Inside Story of the Collapse of Lehman Brothers“, das zum Jahrestag in den USA erschienen ist, erzählt er aus der Perspektive des Mitarbeiters im dritten Stock des Lehman Hauptquartiers, wie die 158 Jahre alte Institution dank Arroganz und Größenwahn in der Chefetage im 31. Stock in die größte Pleite der Wirtschaftsgeschichte schlingerte – und die Welt in die Rezession kippte. Obwohl er sich früh entschlossen hatte, es an die Wall Street zu schaffen, startete McDonald seine Karriere zunächst als Vertreter, der gefrorene Schweinesteaks von Haustür zu Haustür anbot, bevor er 2004 einen Job als Bondhändler in Lehmans Handelsraum landete. Heute arbeitet er bei einem Investmentfonds. Mit Hilfe seines Co-Autors Patrick Robinson hat McDonald seine eigenen Erlebnisse aufgeschrieben und die Ereignisse detailliert nachrecherchiert. Im Rue 57, einem Bistro nur ein paar Häuserblocks von Lehmans einstigem Gebäude in Manhattan entfernt, plaudert er bei zwei Gläsern Weißwein und einem Bacardi über seine Erfahrungen.

Sie berichten mit Namen und Details über die Vorgänge bei Lehman. Haben sich Ihre Kollegen nicht verraten gefühlt?

Im Gegenteil! Als sie herausfanden, dass ich ein Buch schreibe, hat mein Telefon nicht aufgehört zu klingeln, mein elektronischer Briefkasten, meine Facebookseite waren voller Nachrichten von Lehmanangestellten, die mit mir reden wollten. Ich habe mit 150 Leuten gesprochen, darunter auch vielen in höheren Positionen in der Abteilung Risikomanagement und der Vorstandsebene (executive committee). Alle wollten ihre Geschichten erzählen.

In Ihrer Darstellung liegen die Ursachen des Zusammenbruchs lange vor der Kreditblase.

Lehman hatte sich verrannt. Es war über 150 Jahre lang eine traditionelle Investmentbank, deren Geschäft hauptsächlich die Vermittlung und Zusammenstellung von Finanzierungen für große Unternehmen war. Campbell Soup etwa gehörte zu den ersten wichtigen Kunden. Das war der Deal: Lehman arrangiert die Herausgabe von Aktien und Anleihen, mit den Mitteln baut Campbell eine neue Suppenfabrik und Lehman erhält eine Gebühr. Alles sehr transparent und nicht sehr riskant. Doch in den vergangenen acht bis zehn Jahren drängte die Chefetage immer mehr auf eigene Rechnung und mit eigenem Kapital zu spekulieren. Ein sehr gefährliches Spiel.

Das dann besonders brisant wurde, als zweifelhafte Hypotheken ins Spiel kamen.

Als mein Vater unser erstes Haus kaufte, saß er seinem Banker so gegenüber wie wir beide uns jetzt gegenüber sitzen. Ich spielte mit seinen Kindern Baseball. Man kannte sich. Das war der American Way, so funktioniert Kapitalismus. Aber das Modell wurde zugunsten eines neuen Finanzierungsmodells abgeschafft. Die Banken wollten die Darlehen nicht mehr in ihren Büchern halten, sondern gaben sie – etwa via Lehman - an Investoren ab. Da liehen dann plötzlich isländische Investoren über Lehman einem Busfahrer in Newport Beach in Kalifornien das Geld für ein 350.000 Dollar teures Eigenheim. Und der Mann musste auf dem Kreditantrag nicht mal sein Einkommen angeben.

Sie haben bei Lehman selbst Hypothekenverkäufer kennen gelernt. Und waren beeindruckt.

Das kann man wohl sagen. Wir haben in der Handelsabteilung immer Witze gerissen über diese Bodybuildertypen, die Hypotheken drückten. Wenn man sie gefragt hat, was passiert, wenn die Kreditnehmer nicht mehr zahlen können, zuckten sie bloß mit den Achseln. Das ist deren Problem, sagten sie – dann heißt es halt "back to the ghetto". Ich meine, man merkte, dass die nicht so helle waren. Einmal sind wir nach Kalifornien geflogen, um so einen Laden auszuchecken. Da saß ich auf dem Parkplatz. Ich habe in meinem Leben auf Gottes grüner Flur nicht so viele Luxusschlitten auf einmal gesehen. Ferrari, Lotus, Jaguar ....

Daraufhin begannen Sie und Ihre Kollegen gegen die Hypothekenanbieter zu wetten.

Ja, wir haben gegen Countrywide, AIG, Ambac, American Home gewettet und ganz massiv gegen New Century (Anm. der Redaktion: Der Anbieter brach im April 2007 zusammen.)

Sie haben also gegen Unternehmen gewettet, deren Kredite gleichzeitig in einer anderen Abteilung Ihrer Bank als Produkte weltweit an Investoren vertrieben wurden?

Eine Investmentbank ist eine Organisation, die 24 Stunden, sieben Tage die Woche in Aktion ist. Es ist wie eine Boeing mit 16 Düsenantrieben – nur dass jeder Antrieb mit den anderen heftig darum konkurriert, das meiste Geld zu verdienen. Wir hatten keine Ahnung, was genau die anderen Jungs machten. Das haben wir erst später mitbekommen. Unsere Hypothekenanbieter BNC und Aurora waren zum Beispiel im Mittleren Westen. Die haben sich bei mir erst gemeldet, als ich anfing, mein Buch zu schreiben.

Aber besonders schlecht war die Kommunikation mit der Top-Etage bei Lehman.

Wenn Sie wirklich verstehen wollen, was bei Lehman passiert ist, dann stellen Sie sich eine 250 Meter hohe Rakete vor. An der Spitze sitzt eine Kapsel und drin sind Astronauten aus den sechziger Jahren. Das war Richard Fuld und sein Team oben im 31. Stock. Aber die Rakete selbst besteht aus moderner Technologie aus dem 21. Jahrhundert. Unglaublicher Treibstoff, unglaubliche Technik, unglaubliche Kraft. Das waren die Leute in den unteren Stockwerken.

Die Banker an der Spitze verstanden das eigene Geschäft nicht mehr?

Sie schotteten sich ab, um nicht zu zeigen, dass sie Dinge nicht verstanden.

Einer der entscheidenden Faktoren für Lehmans Untergang war aus Ihrer Sicht die Isolation der Chefetage...

Im Handelsraum war Fuld nie zu sehen. Ich dachte erst, dass ich einfach nicht wichtig genug sei, selbst nachdem ich der Firma 80 Millionen Dollar eingefahren hatte. Aber dann stellte ich fest, selbst führende Leute im Risikomanagement hatten den Mann nie getroffen. Das ist erschreckend!

Es gab laut Ihrem Bericht mehrfach Warnungen, auch aus dem eigenen Haus, die von der Chefetage abgebürstet wurden.

Anfang 2007 stellte unsere Abteilung Festverzinsliche Wertpapiere fest, dass die großen Investmentfonds ihre Positionen bei den Schuldverschreibungen zurückfuhren. Mit den Schuldverschreibungen finanzierten aber die Hypothekenjungs ihre CDOs und RMBS (Wertpapiere, die mit Hypotheken unterlegt sind). Als die großen Fonds nicht mehr anriefen, war klar, dass das bald ein echtes Problem schaffen würde, weil wir zu dem Zeitpunkt bis zu fünf Mrd. $ an Hypotheken pro Monat ausreichten. Mike Gelband – Chef der Abteilung - wandte sich an Joe Gregory, Fulds rechte Hand-Mann, und bat das Hypothekenvolumen auf ein bis zwei Milliarden Dollar runterzufahren. Der ließ ihn abblitzen. Und obwohl klar war, dass Mike seinen Kopf aufs Spiel setzte, wenn er Gregory umging, baten ihn seine Kollegen inständig, trotzdem mit Fuld direkt zu reden.

Was passierte?

Gelband war so mutig und ging zu Fuld und erklärte ihm die Lage, wie er sie sah. Der Mann kann nicht lügen, selbst wenn er wollte. Fuld sagte ihm, er wolle nicht wissen, was nicht gehe. Er wolle wissen, was geht. Gelband und seine Leute seien zu konservativ, zu vorsichtig.

Sie werfen Fuld vor, sich wie ein Monarch aufgeführt zu haben.

Unter uns im Handelsraum haben wir ihn „den Unsichtbaren“ - wie in der TV-Serie - genannt. Jeden Morgen rief sein Chauffeur beim Empfang an, der dann einen Aufzug reservierte. Ein Sicherheitsmann hielt die Tür auf. Dann kam Fuld durch die Hintertür und verschwand direkt in sein Büro im 31. Stock.

Lehman war an der Wall Street lange die Nummer vier hinter Goldman Sachs, Merrill Lynch und Morgan Stanley. In den Boomjahren wurden zunehmend große Private Equity Firmen zur Konkurrenz. Steve Schwarzman, der Gründer von Blackstone, etwa wurde von Fortune zum „König der Wall Street“ gekürt. Schwarzman hat einst bei Lehman angefangen. Welche Rolle spielten persönliche Eitelkeiten?

Schwarzman und Fuld waren schon bei Lehman Erzrivalen, bevor Schwarzman Anfang der achtziger Jahre ging und Blackstone startete. Mit dem Kauf von Equity Office Properties...

....einem Immobilienimperium mit 560 Objekten, das Schwarzman 2007 für die Rekordsumme von 39 Milliarden Dollar kaufte ...

... hatten sie einen Killerdeal gelandet. Als Blackstone ein paar Monate später an die Börse ging, sammelten sie rund vier Milliarden Dollar ein – Richard Fuld fühlte sich wie ein armer Schlucker! Deswegen drängte er unsere Immobilienabteilung zu immer größeren Übernahmen. Er wollte unbedingt den EOP-Deal von Blackstone übertrumpfen.

Fulds berüchtigtes Temperament hat Ihrer Beschreibung nach auch das Verhältnis zu Finanzminister Paulson belastet.

Richard Fuld war sein ganzes Leben ein Händler. Hank Paulson war sein ganzes Leben ein Investmentbanker, für die gute Beziehungen Geschäftsgrundlage sind. Das sind die zwei Grundtypen an der Wall Street. Und die kommen in der Regel nicht miteinander aus.

Sie berichten von einem Treffen der beiden, das für Lehman möglicherweise schicksalhaft wurde.

Es war ein Abendessen im Frühjahr 2008. Fuld kam zurück und beruhigte seine Truppe: Wir sind gut angesehen beim Finanzministerium, sie lieben unsere Eigenkapitalquote und so weiter. In Wirklichkeit war Paulson sehr, sehr, sehr, sehr verärgert, weil Lehman weiterhin in Hedge Funds Kapital pumpte – während die Fed (US-Notenbank) den Investmentbanken Liquidität zur Verfügung stellte, um sie zu stützen. Und er war tief unzufrieden, weil Fuld nicht aggressiv genug versuchte, Lehman zu verkaufen. Worauf Fuld schnippisch zurückgab, „Sag mir nicht, wie ich meinen Job machen soll.“ Schließlich war er mit knapp 15 Jahren der dienstälteste Wall Street CEO und Paulson war nur ein paar Jahre an der Spitze von Goldman Sachs!

Sie beschreiben, wie am 14. September, in den letzten Stunden Lehmans, die Manager vergeblich versuchten, zu Timothy Geithner durchzudringen, der damals als Chef der New Yorker Notenbank für die Rettung der Wall Street zuständig war.

Geithner war untergetaucht. Das habe ich von Leuten, die dabei waren. Sie versuchten es per Telefon, per Pager, sie hinterließen Nachrichten. Sie kamen nicht zu ihm durch. Sie konnten nur seine Nummer zwei erreichen, eine Frau. Die sagte, das ist euer Problem, löst es! Das war die offizielle Linie von Ben Bernanke, Paulson, Geithner schon dieses ganze Wochenende. Wißt ihr was ihr da tut? Das haben die Lehman Leute immer wieder gefragt. Ihr werdet die Kräfte des Bösen auf die Weltfinanzmärkte loslassen! Das wurde so gesagt. Wisst ihr, was ihr da tut?

Es gab noch eine letzte Hoffnung...

George Walker war unser Leiter der Vermögensverwaltung und Präsident Bushs Cousin. Und alle, die im 31. Stock versammelt waren, - einige weinten - baten ihn: Du musst ihnen klarmachen, was passiert, wenn 6 Billionen Dollar in CDS, 30 Milliarden an Hebelkrediten, 40 bis 60 Milliarden an Hypothekenpapieren auf Wohnimmobilien und noch mal 30 bis 40 in Papieren auf Gewerbeimmobilien auf einen Schlag aufgelöst werden. Das alles wird auf die Finanzmärkte kippen und die Weltwirtschaft plattmachen! George, du musst es ihnen klarmachen, du musst den Präsidenten anrufen! George wollte nicht den Finanzminister und den Fed-Chef hintergehen. Aber sie hörten nicht auf und schließlich ruft er im Weißen Haus an und sagt: Ich muss den Präsidenten sprechen, ich bin sein Cousin!

Und wie hat Präsident Bush reagiert?

Die Rezeptionistin des Weißen Hauses sagte, einen Moment bitte. Das muss man sich vorstellen: Eine 158 Jahre alte Bank, die den Bürgerkrieg, die Große Depression, zwei Weltkriege und die Terroranschläge des 11. Septembers überlebt hat und jetzt steht sie vor dem Kollaps. Dann meldete sich die Rezeptionistin wieder und sagte: Es tut mir leid, Mr. Walker, der Präsident kann Ihren Anruf nicht entgegennehmen.

Und das war's?

Und das war's. Das passierte gegen neun Uhr abends. Viereinhalb Stunden später meldete Lehman Insolvenz an.

Das Gespräch führte Heike Buchter.

Quelle: ZEIT ONLINE

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