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Wirtschaft: Florian Witten

Geb. 1975

Von David Ensikat

Er meinte, die Welt zu verstehen, weil er andere Welten gesehen hatte. Muss, wer über Florian schreibt, über den Wahnsinn schreiben?

Florian ist erst mit 14 Monaten losgelaufen, als er es wirklich konnte. Keine Experimente. Jakob, sein Bruder, hat sich schon mit neun Monaten an den Möbeln hochgezogen und ist losgewankt, ist hingefallen und wieder aufgestanden. Florian hat als Kind große Angst gehabt vor dem Atomkrieg. Johanna, seine Schwester, fand es toll, mit den Eltern zur Demonstration zu gehen und was für den Frieden zu tun. Jakob und Johanna haben nach der Schule gleich studiert; Florian hat nicht gewusst, was er tun sollte. Na und? Ist doch alles ganz normal.

Florian hat gemalt, sehr oft sich selbst. Eine Hälfte seines Gesichts ist auf den Bildern oft entstellt. Sie verschmilzt mit dem Hintergrund, sie verschwindet im Dunkel, ein Auge ist starr und leblos.

Abgesehen von drei kurzen Jobs hat Florian nie Geld verdient. Das letzte halbe Jahr lebte er bei den Eltern. Wenn jemand kam und fragte, ob Florian mal helfen kann, beim Umzug, beim Malern, wobei auch immer, dann sagte Florian: „Na klar, ich hab ja sonst nichts zu tun.“

Ein Nachbar, den er im Hausflur traf, fragte voller Spott: „Na? Haste dir deinen Feierabend heut’ verdient?“

Was wusste der denn schon?

Man muss über den Wahnsinn schreiben. Über die Psychosen, die Schizophrenie, über die Krankheit. Übers Anderssein. Wie auch immer man es nennen will. Auch wenn es nur Phasen waren, jährlich eine oder zwei – sie haben Florians Leben, seit er 21 war, bestimmt.

Damals, als es zum ersten Mal geschah, konnte er nächtelang nicht schlafen, ist umhergelaufen, hat seinen Bruder angerufen: „Ich hab’ die Welt verstanden“, wollte zu seiner Schwester nach Frankreich wandern, weil er plötzlich wusste, dass sie eine Elfe ist, hat im Krankenhaus angegeben, Gott zu sein (und hat gelernt, dass das mit dem Monotheismus so nicht stimmen kann, denn es gab im Krankenhaus noch einen Gott).

Hinterher war ihm das alles furchtbar peinlich. Einerseits. Andererseits sah Florian auch einen Wert in alledem. Er hatte andere Welten gesehen, hatte mit Wesen gesprochen, über die andere Leute dicke Bücher lesen und sie sich doch nicht richtig vorstellen können. Befragt, wie es denn mit den Medikamenten sei, die er gegen die Psychosen manchmal nahm, sagte er: „Langweilig“.

Was soll so einer aber machen in dieser Welt? Florian funktionierte ja nicht, wie man das soll. Ziele stecken und verfolgen. Pläne Schritt für Schritt umsetzen. Ehrgeizig sein, was werden. Das alles konnte Florian nicht. Er konnte grübeln. Er stellte Theorien auf über parallele Welten, über Welterlösung, eben über das, was er gesehen hatte. Das musste doch für irgendetwas gut sein.

Wenn er seine Texte vorzeigte, verstand die aber niemand richtig. Er erklärte viel zu viel darin. Die Welt, darunter machte er’s ja nicht. Die Leser mochten sich gut in ihrer Welt zurechtfinden. Aber gegenüber Florians Erklärungen brachten sie nur kleinliche Argumente auf: Strukturiere das doch mal! Worum geht’s dir überhaupt?

Florian hatte ein Riesenglück mit der Familie. Sie haben ihn geliebt, so wie er war. Ein Grübler eben, manchmal krank. Na und? Sie wussten, dass es gar nichts nützt, zu sagen: Reiß dich zusammen! Sie holten ihn zu sich, wenn es ihm schlecht ging, sie ließen ihn gehen, wenn er fort wollte. Seinem Bruder hat er mal gesagt: „Wenn es euch nicht gäbe, hätte ich mir längst das Leben genommen.“ Da hat der Bruder ihm eine runtergehauen. Mit oder ohne uns – an so was denkst du überhaupt niemals!

Die letzte Psychose war besonders heftig. Florian hörte Stimmen, hatte plötzlich keine Fragen mehr, begriff den Sinn der Welt, aber nicht, was um ihn herum geschah. Die Eltern brachten ihn in die Klinik, er blieb freiwillig dort. Sie besuchten ihn an jedem Tag, liefen mit ihm durch den Garten. Ließen ihn sich unterhalten mit den unbekannten Wesen in seinem Kopf. Die Eltern warteten auf lichte Augenblicke, dann sprachen sie mit ihm.

Am letzten Sonntag im März gab es einen solchen Augenblick, da stellte er wiedermal eine seiner Listen auf. Was er tun wollte, um nicht mehr so mies drauf zu sein: Statt Death Metal klassische Musik hören, statt düstere Öl-Bilder helle Aquarelle malen, mehr im Garten arbeiten. Dann waren die Stimmen wieder da, die Elfen und die Zauberer.

Die Eltern gingen heim und telefonierten mit Florians Bruder. Ob er bald wieder rauskäme aus dem Krankenhaus, wollte der wissen. Kann sein, kann nicht sein. So weit ist er trotz der Liste wohl doch noch nicht.

Am selben Abend lief Florian zum U-Bahnhof Bismarckstraße und warf sich vor den Zug.

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