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Wirtschaft: Frank Dingel

Geb. 1945

Vor dem Denkmal soll man denken. Nicht vor Erstarrtem erstarren. Mnemosyne ist ein flatterhaftes Mädchen, so ein bedeutender russischer Erinnerungskünstler. Man muss sie bändigen, sonst reißt sie sich los, geht ihre eigenen Wege, treibt ihr Verwirrspiel mit uns oder verschwindet ganz. Aber zu sehr zähmen sollte man sie auch nicht. Sie braucht Bewegung, darf nicht eingesperrt werden, in den Mauern der Vergangenheit. Dort würde zu einer Statur, schön anzusehen, jedoch leblos.

Das Wort Denkmal kommt vom griechischen mnemósynon. Noch hat sie sich nicht ermattet zurückgezogen, die Muse der Erinnerung, noch hat sie sich nicht ergeben, dem Einfluss des monumentum, der Versteinerung ihrer selbst und der Betrachter.

Frank Dingel wünschte sich, dass der Betrachter eines Denkmals tatsächlich etwas denkt, also nicht mehr nur Betrachter bleibt, erstarrt vor Erstarrtem, sondern in eine Bewegung gerät, die das betrachtete Denkmal gleichsam einschließt.

Viele Jahre beschäftigte Frank Dingel sich mit Gedenkkultur, theoretisch und vor allem praktisch. Er war dabei, als die „Topographie des Terrors“ ins Leben gerufen wurde, ein Projekt, das zunächst für nur wenige Monate aus Anlass der 750-Jahr-Feier Berlins geplant war. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter begleitete er die Freilegung des ehemaligen Machtzentrums des SS-Staates, organisierte Ausstellungen, schrieb Buchbeiträge, führte Besucher über das Dokumentationsgelände. Diese Führungen, das Sprechen, Erklären und Diskutieren, waren die Tätigkeit, die er am meisten schätzte, eine Tätigkeit, die das institutionalisierte Gedenken durchbricht.

Berichte und Bilder vom Grauen können zu wieder belebten Augenblicken werden. Die Vergangenheit verkommt nicht zu einer erstarrten Gegenwart, in der das Erinnern matt und leblos einzig auf Gedenkfeiern und Festakte wartet.

Aus diesem Grund mochte Frank Dingel das Provisorische an der „Topographie des Terrors“. Nach seinem Verständnis entsprach es am ehesten dem Grausamen, Brüchigen und Ungreifbaren der Geschichte und der Geschichten, war der behutsamste Umgang mit ihnen. Der anstehende Neubau bedeutete für ihn Musealisierung und also Normalisierung des Schreckens. Die Wunde ist nicht einfach zu schließen durch Denkmäler, die im Lauf der Zeit immer weniger wahrgenommen werden, von denen man irgendwann nicht mehr genau sagen kann, mit welcher Absicht sie errichtet wurden.

Der Moment der Entstehung eines Denkmals, die Phase, in der die Ideen reifen, in der sie den Charakter des Versuches tragen, barg für Frank Dingel ein Höchstmaß an Möglichkeiten, an Offenheit in der Debatte. Schon in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren, in seiner Studenten- und später Assistentenzeit am Otto-Suhr- und Meinecke-Institut, schloss er sich keiner politischen Gruppierung an. Er las Karl Marx, wurde aber kein Marxist. Er sann über die Utopien des Kommunismus, wurde aber kein Kommunist. Nicht die ausgetretenen Pfade wollte er nehmen. Sein Blick richtete sich auf die langsam im Gestrüpp des Vergessens entschwindenden Wege.

Dieses Gestrüpp, diese wuchernden, ineinander verschlungenen Verästelungen fesselten ihn auch auf eine viel stillere Weise: Frank Dingel las Krimis, für sein Leben gern. Schilderungen psychologischer Momente, die Verbrecher antreiben und Opfer gehetzt zurück lassen, Milieubeschreibungen, unheilvolle politische Verflechtungen, Gewissensnöte der Figuren, in diesen Detektivromanen fand er all das, was in seiner Arbeit ernst und bedrückend war. Die Pfeife im Mund, Wölkchen in die Luft stoßend, versank er in seinem Sessel und in den Geschichten.

Immer waren es die wenig Beachteten, denen seine Aufmerksamkeit galt, die, deren Spuren nicht so deutliche Abdrücke im öffentlichen Interesse hinterlassen hatten, die nicht so sichtbar waren wie die anderen.

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