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Neue Runde im Gasstreit: In Berlin trifft sich EU-Energiekommissar Oettinger mit den Energieministern Russlands und der Ukraine. Russland droht mit einem Liegerstopp ab Anfang Juni, wenn Kiew seine offene Rechnungen nicht begleicht.

© dpa

Gasstreit mit der Ukraine: Oettingers Meisterprüfung

Der EU-Energiekommissar sucht den Durchbruch im Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine.

Europas mächtigstem Schwaben bleibt am heutigen Montag kaum Zeit zu überlegen, was das Ergebnis der EU-Wahl für seine Karriere bedeutet. Günther Oettinger (CDU) trifft sich in der Berliner Repräsentanz der Kommission Unter den Linden mit den Energieministern Russlands und der Ukraine. Bis zum Abend möchte der EU-Energiekommissar dort den Durchbruch im Milliardenstreit um die Gaslieferungen von Russland durch die Ukraine in die EU erzielt haben. Gelingt es ihm, wäre die Ukrainekrise merklich entschärft. Scheitert Oettinger, wollen die Russen schon kommende Woche den Gashahn zudrehen. Das hätte sofort gravierende Folgen für die Ukraine und ihre Nachbarländer. Es ist die bisher heikelste Mission des ehemaligen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs im Amt eines EU-Kommissars. Es ist seine Meisterprüfung.

Bei Amtsantritt im Februar 2010 wurde Oettinger belächelt: Im Internet zeigte man Videos, in denen er in drollig schwäbischem Denglisch seine Visionen erklärte. Nach Fukushima 2011 löste sein Zickzackkurs in Sachen Kernenergie Kopfschütteln aus. Heute ist er wieder für Atomkraft. Dann zog Oettinger den Zorn der Russen auf sich, weil er gegen deren Ostsee-Pipeline Nordstream nach Greifswald stänkerte. Zudem haben Gazprom-Manager ihn im Verdacht, den Wettbewerbskommissar angestachelt zu haben, im September 2011 europaweit Büros des russischen Gasmonopolisten wegen des Verdachts auf Preisabsprachen durchsuchen zu lassen.

Neutraler Schlichter kann Oettinger nicht sein

Eigentlich keine guten Voraussetzungen, um eine Krise mit dem Kreml zu lösen. Trotzdem fiel Oettinger nun die Rolle eines Unterhändlers zu. Und leichter machte man es ihm nicht, ein neutraler Schlichter zwischen Russland und der Ukraine kann er nämlich nicht sein: Im März hatten ihm die Staats- und Regierungschefs aufgetragen, eine Strategie zur Bekämpfung der Energieabhängigkeit der EU auszuarbeiten. Begründung: Die 27 Mitgliedsländer importieren jeden Tag Energie im Wert von rund einer Milliarde Euro, 53 Prozent kommt von außerhalb der EU. Und viele Staaten hängen stark von Russland ab – sechs sogar zu 100 Prozent. „Trotz der bisherigen Anstrengungen bleibt die EU verletzlich“, erläuterte Kommissionschef José Manuel Barroso dazu vergangenen Mittwoch bei einer Konferenz in Brüssel. Oettinger selbst sprach dort von „Erpressbarkeit“ und Polens Premier Donald Tusk meinte, Europa sei energiepolitisch „versklavt“.

Russlands Präsident Wladimir Putin schrieb im April einen Brief

Oettinger ist also Partei, weil er Europas Gas- und Ölkunden aus der Abhängigkeit von Russland befreien soll. Zugleich trug ihm Kommissionschef Barroso auf, neutral zwischen Russland und der Ukraine im Streit um die Gaslieferungen zu vermitteln. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte nämlich im April in einem Brief an 18 Regierungschefs von EU- und Nicht-EU-Staaten, die russisches Gas beziehen, behauptet, dass die Ukraine seit November keine Rechnungen mehr bezahle und als Transitland Gas, das für andere Länder bestimmt ist, aus den Pipelines abzweige. Man werde gezwungen sein zu handeln, schrieb Putin. „EU-Energiekommissar Oettinger steht bereit, diese Probleme sofort mit russischen und ukrainischen Verhandlungspartnern zu besprechen“, schrieb Barroso zurück. Also traf sich Oettinger mit den beiden Energieministern und Chefs der jeweiligen staatlichen Gasexporteure Gazprom und Naftogaz, gemeinsam und getrennt in Warschau, Brüssel und Berlin. Geeinigt haben sich die Parteien mittlerweile immerhin über bereits gelieferte Mengen und Preise dafür.

Die Höhe der Schulden ist umstritten

Noch umstritten sind vor allem die Höhe der Schulden – die Russen behaupten, Kiew müsse noch 2,2 Milliarden Euro zahlen – und der Preis für künftige Lieferungen. Gazprom verlangt von der Ukraine ab Juni Vorkasse. Die Staatsfirma gewährte den Ukrainern bisher noch Rabatte, etwa wegen der Nutzung eines Flottenstützpunktes der russischen Marine auf der Krim: Die Ukraine zahlte bisher 268 Dollar je 1000 Kubikmeter. Nun, wo die Krim annektiert ist, fordert Gazprom 485 Dollar.

So wird Oettinger heute die Telefonnummern der Regierungschefs wichtiger EU-Geberländer und die von Christine Lagarde, der Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), bereithalten. Allen Seiten ist klar, dass die Ukraine ihre Schulden unmöglich sofort bezahlen kann. Also ist Scheckbuchdiplomatie gefragt. Oettinger wird den Ukrainern das Versprechen abtrotzen müssen, dass sie einen Schnellkredit, den EU und IWF dem Gastransitland offenbar gewähren wollen, umgehend nach Russland weiterleiten.

Sein Kalkül: Die Zustimmung fällt der amtierenden Regierung in Kiew, die nach der gestrigen nationalen Wahl womöglich nur noch kommissarisch im Amt ist, am heutigen Montag etwas leichter. Und eine frisch legitimierte Regierung bringt die politische Kraft auf, unpopuläre Zahlungen an Russland zu tätigen.

Oettinger will einen Stresstest bei Europas Gasunternehmen

Gelingt die Einigung, bliebe Oettinger aber noch die andere Aufgabe: Die Abhängigkeit von Russland mittel- und langfristig zu begrenzen. Dem Tagesspiegel liegt dazu ein Entwurf zu dem Konzept vor, das Oettinger kommende Woche der Öffentlichkeit präsentieren will: Demnach will er zunächst einen Stresstest bei Europas Gasunternehmen vorschlagen, der Schwachstellen identifizieren soll. Anschließend sollen die Speicher gefüllt werden und allen EU-Staaten zur Verfügung stehen. Auf europäischer Ebene würden Notfallpläne und entsprechende „Solidaritätsmechanismen“ erstellt. Teil der Strategie ist auch, Lieferländer wie Norwegen oder Algerien kurzfristig zu höheren Abgabemengen zu bewegen.

Am effektivsten aber wäre es, glaubt Oettinger, wenn Europa den Energieverbrauch insgesamt senkt. Dazu kündigte er bereits einen Gesetzesvorschlag für mehr Energieeffizienz an. In diesem Zusammenhang übte er vergangene Woche scharfe Kritik daran, dass im Europawahlkampf auch von seiner Partei, der CDU, die von den EU-Staaten gewünschte Ökodesignrichtlinie, die den Stromverbrauch von Kühlschränken oder Staubsaugern regelt, vehement abgelehnt wurde. „Die Parteiprogramme beschämen mich“, sagte der Kommissar. Setzten die Regierungen der Kritik an der EU-Kommission in diesem Bereich nichts entgegen, „sollen sie ihren Mist alleine machen“.

Europa ist kompliziert. Oettinger hat wohl nur die Chance, ab kommenden Winter erneut für fünf Jahre zum EU-Kommissar ernannt zu werden, wenn der Luxemburger Konservative Jean-Claude Juncker im Oktober vom nun gewählten EU-Parlament zum Kommissionspräsidenten gewählt wird. Klappt all das nicht, liegen Oettinger angeblich auch „mehrere Angebote aus der Privatwirtschaft vor“, sagt seine Sprecherin in Brüssel. Bisher hat der 60-Jährige nicht erklärt, wohin es ihn zieht: Wenn er aber heute in Berlin den international viel beachteten Gasstreit löst, stehen ihm sicher viele Türen offen.

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