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Wirtschaft: Geb. 1909

Ihre Leidenschaft konnte die Verwandten zuweilen befremden. Eine Streiterin aus dem Fußvolk der Künste.

Ihre Leidenschaft konnte die Verwandten zuweilen befremden. Eine Streiterin aus dem Fußvolk der Künste. Stundenlang las sie aufrecht im Bett griechische Tragödien und vergaß alles rundherum.

Sie war Geigerin, keine berühmte, eine gute Geigerin. Mit acht Jahren bekam sie die erste Violine, mit achtzehn wusste sie, dass sie nichts anderes im Leben mehr tun wollte, auch wenn ihr Talent zur großen Solokarriere nicht genügte. Sie studierte an der Musikhochschule in Berlin, bei einem der besten Lehrer Europas.

Es waren die dreißiger Jahre. Aus nächster Nähe erlebte sie damals, wie eilig sich viele Musiker in den Tagen der Machtergreifung zu Handlangern der Nazis machten. Jüdische Musiklehrer wurden aus der Hochschule gedrängt; nur wer Mitglied des staatlichen Verbands der Musiker war, durfte noch öffentlich auftreten, und Juden wurden in diesem Verband nicht aufgenommen. „Mit dieser Maßnahme treffen wir alle Elemente, Ausländer und Schwarzarbeiter“, schrieb damals Gustav Havemann, der Vorsitzende des „Reichskartells der deutschen Musikerschaft“ an den Propagandaminister. Gustav Havemann war ein begnadeter Geiger und fanatischer Anhänger Hitlers, Führer des nationalsozialistischen Kampfbundorchesters. Und er war der Lehrer von Eva Roloff.

Natürlich wusste auch Eva Roloff von Havemanns Antisemitismus, und die Nationalsozialisten verabscheute sie. Dennoch stand sie zu ihrem Lehrer. Wie es denn aber mit Mendelssohn-Bartholdy sei, wagte sie allenfalls zu fragen, und zwang ihn zu dem gereizten Eingeständnis, dass es sich im gewissen Sinne schon um große Musik handele, aber leider aus unlauterer Quelle.

Eva Roloffs Bruder war im Widerstand, Kämpfer in der Roten Kapelle, und nur der Umstand, dass er Künstler war und durchaus geschickt das Klischee des weltfremden Musikanten darzustellen verstand, bewahrte ihn davor, hingerichtet zu werden. Musiker wurden gebraucht in der Zeit des Krieges. Auch Eva Roloff selbst spielte viele Konzerte im Dienst der musikalischen Wehrertüchtigung, daheim und an der Front.

Nach dem Krieg, sie wohnte noch immer in Berlin, kaufte sie eine neue Geige, keine berühmte, aber eine kostbare, die sie fünfzig Jahre jeden Tag spielte. Sie war Mitglied in einem Orchester, nicht in dem besten der Stadt, aber in einem guten. Leben konnte sie von dem Engagement jedoch nicht. Also wurde sie, zunächst wider Willen, Lehrerin. Eine Pein für beide Seiten. Anfangs ließ sie jeden ihrer Schüler spüren, dass er wohl nie zum Virtuosen werden würde. Sie setzte jene Meisterschaft voraus, die sie doch erst lehren sollte.

Als sie ihre Ansprüche minderte, gewann sie im gleichen Maß die Sympathie ihrer Schüler. Hunderte wurden es im Laufe der Zeit, einige unterrichtete sie über Jahrzehnte hinweg. Was sie vermitteln konnte, war mehr als nur technische Fingerfertigkeit. Sie lehrte Enthusiasmus.

Denn eigentlich verstand sich Eva Roloff noch immer als Künstlerin, und so war sie nunmal eine persona impetuosa: In dem Tempel der Kunst, so ihr Glaubensbekenntnis, gibt es keine Angestellten, sondern nur glühende Verehrer oder Ungläubige und Abtrünnige.

Eva Roloffs Leidenschaft konnte zuweilen befremden. Eine Streiterin aus dem Fußvolk der Künste, die sich noch mit achtzig in der Schlange vor der Konzertkasse einreihte oder aufrecht im Bett sitzend über Stunden hinweg völlig gebannt griechische Tragödien las, bis die besorgte Verwandtschaft sich dort versammelte, weil sie den täglich vereinbarten Anruf vergessen hatte.

Essen? Ein physiologischer Fluch, dem man sich schnellstmöglich entziehen musste, zumal ein Glas Wein die Kalorien viel angenehmer sicherte. Erst auf den Druck ihrer Familie hin kreierte sie im Alter ein Vitamingericht, das sämtlichen Ernährungsgeboten entsprach. Sie nannte es „Kretasalat“. Fortan, über Jahrzehnte hinweg war das ihre Hauptspeise – und die ihrer Gäste auch.

Kosmetik? Zwei schnelle Striche über die Augenbrauen jeden Morgen, mehr war nicht zu tun, und die Freunde konnten an der Art der Strichführung die Laune des Tages erkennen.

Fernsehen? War des Teufels! Die Zeitung hingegen geliebt, ebenso das Radio.

Und die Ehe? „Unglücklich ist der Mensch, aber glücklich der Künstler, den die Sehnsucht verzehrt“, – so ist, Baudelaire zufolge, jeder Künstler ein seltsames Zwitterwesen, glücklich in seiner Leidenschaft für die Kunst; unglücklich, da er selten zum Zusammenleben taugt, und schon gar nicht zur Ehe. Denn zwei Enthusiasten ertragen einander nur schwer, aber ganz und gar unmöglich wäre für Eva Roloff das Zusammenleben mit einem unmusikalischen Menschen gewesen. Also blieb sie nach dem Tod ihres Vaters allein.

Aber nicht ohne Familie!

Vater, Mutter, Kind – das ist nach heutigem, pragmatischem Verständnis eine Familie. Aber wirklich komplett ist eine Familie doch nur mit Onkeln und Tanten, wobei die Tante in der Literatur wie im Leben eine ganz eigene Sonderstellung hat.

Über was, wenn nicht über ihre Geigenschrulle konnte man sich bei Familienfesten am besten amüsieren? Wer hatte alle Geschichten parat, die es familienhistorisch zu bewahren galt? Und wer gab den Neffen und Nichten das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein, eben weil man „ein Roloff“ war? Nach Tantes Dafürhalten war das ein Ausweis genetischer Exklusivität.

Die gute Tante hatte etwas von der guten Fee im Märchen, nur inkognito eben, denn erst nach ihrem Tod erahnt man wirklich die Lücke, die sie lässt.

Als Eva Roloff das Geigenspiel aufgab, mit 92 Jahren, wussten alle, dass der Abschied nahte. Als sie die Geige noch nicht einmal mehr in ihrem Zimmer duldete, waren die Tage zu zählen. Die Neugier aufs Unerwartete, die ihren Geist immer so wach gehalten hatte, wich der Sehnsucht nach dem Ende. Die letzten Wochen saß Eva Roloff still in ihrem Zimmer und wartete auf den Tod. Gregor Eisenhauer

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