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Wirtschaft: Geb. 1921

Das war Kodex der Genossen: Man geht nicht fremd, man lässt sich auch nicht scheiden, und Kinder müssen sein. So denkt man immer: Was wäre wenn?

Das war Kodex der Genossen: Man geht nicht fremd, man lässt sich auch nicht scheiden, und Kinder müssen sein.

So denkt man immer: Was wäre wenn?

Was wäre aus Karl Neelsen geworden, hätte ihn das Leben woanders hingespült? Nicht nach Berlin, sondern nach Hamburg? Nicht in die Arme der klugen, tüchtigen Ursula, sondern in die einer anspruchslosen Frau? Was wäre, hätte der junge, hochgewachsene Mann aus Lübeck, nicht sozialdemokratische Eltern gehabt, sondern Vater, Mutter, die – so würde er es sagen – Kapitalisten gewesen wären?

Kommen die Dinge, wie sie kommen sollen?

Am Ende kamen sie sehr schnell für den großen, stillen Karl. Ein hohes Fieber, davor schon lang ein Nichtmehrwollen. Vermutlich, weil das Herz voll Kummer war. Und Alzheimer war diagnostiziert. Die DDR, ihr unheilvolles Ende, „das ging nicht rein in seinen Kopf“, sagt seine Frau. Oft saß er stundenlang in seinem Arbeitszimmer, verschloss sich, und hing den alten Zeiten nach. Sortierte seine Alben, klebte, schnipselte versessen, und nichts, aber auch gar nichts, durfte jemals durcheinander kommen. Die Alben der Familie Neelsen, das waren nicht nur Fotobücher, in ihnen war die Zeit verewigt. Lebensmittelmarken, Briefe von der Front. Hier haften Schicksalsjahre auf Karton. Und ein Museum hätte seine Freude dran. Auch Briefmarken waren Passion, da hatte er noch viel mehr Alben, 53 an der Zahl.

Ein Mann ist tot, Karl Neelsen, dem es immer um „die Sache“ ging. Um die der Kommunisten. Er konnte, wollte da nicht anders. Kam aus dem Krieg und schwor sich Großes: Nie wieder diese Nazis, nie wieder dieses Morden, nur noch Gerechtigkeit für alle. Und Brot und Arbeit, Solidarität. Das wollten Karl und seine Braut, das war und blieb ihr Ziel ein ganzes Leben.

Heut sitzt Frau Neelsen in der Stube, und es fehlt ihr viel. Sie selbst ist 77 nun. Manchmal erwacht sie nachts, das Radio läuft, und sie erschrickt: Um Gotteswillen, Karl, er könnte wach werden von so viel Krach. Dann merkt sie, dass er nicht mehr da ist. Drei Stunden Reden über Karl, das wühlt mehr auf, als ihr so lieb ist. Und manchmal steigen Tränen hoch. Es fallen ihr Dinge wieder ein, die schon versunken waren, weit in den Tiefen ihres Ehe-Sees. „Kopfgröße 63 hatte er, ihm passte nie ein Stahlhelm.“

Vieles im Leben hat sie von ihm ferngehalten, weit über fünfzig Jahre lang. Die Kinder von seinem Arbeitszimmer, die Alltagssorgen von seinem Professorenkopf. Und bildete sich selbst zur Ärztin fort, war schließlich „OMR“. Obermedizinalrat, Doktor der Sozialhygiene. „Eigentlich“, sagt sie, „das muss ich jetzt mal sagen, war er mein drittes Kind“. Und selbst das Autofahren überließ er ihr.

In Thüringen trafen sie zusammen, vier Jahre nach dem Krieg. Zur Kur, zum Regenerieren, waren beide da und stapften viel und lange durch den Schnee. Ihr Äußeres, der Habitus – das lag ihm, mehr noch, es gefiel ihm gut, er hatte sie schon länger wahrgenommen. Gestand er später. Im Leseraum der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät. Die Hochzeit dann drei Jahre später, die lief, wie es für die Genossen üblich war. Ganz ohne Firlefanz und große Worte. Kein Pomp und keine Duselei, nur Anzug, Bluse, fertig, aus. Das war der Kodex, alles andere: nur dekadent und bürgerlich. Der Bruder als Trauzeuge, eine Bockwurst am Alex, „das alles war schon sündhaft teuer“, sagt Frau Neelsen, „und damit auch genug“. Romantik gab es schließlich doch ein bisschen: Sie liefen Hand in Hand durch Sanssouci.

„Es war nicht Liebe auf den ersten Blick, doch ist das wichtig?“, fragt Frau Neelsen. Er war ihr Mann, ihr Lebensmensch, auch wenn ihm manchmal die Manieren fehlten. Ihr gegenüber. Und Zärtlichkeiten auch. „Da wäre mehr schon angebracht gewesen.“ Nicht dass sie viel gefordert hätte, doch richtig rangekommen ist sie nie an ihn. Andererseits – die langen Jahre. Am Ende zählt doch, dass sie ihn vermisst. Hier in der Wohnung, Alexanderstraße. Ein Plattenbau, ihr Domizil seit 1967. Die Oelschlegel war auch mal Mieter hier und Dieter Noll.

Frau Neelsen sagt: „Was wir zusammen durchgestanden haben.“ Den Tod der ersten beiden Kinder, Mädchen und Junge, Klaus und Petra. Sie starb am kranken Herzen, er fiel in kochend heiße Wäsche. Zehn Jahre waren qualvoll, dann kündigte sich Claudia an. Zwei Jahre später Thomas. Ein Leben ohne Kinder – für Neelsens war nicht dran zu denken. Auch das war Kodex der Genossen: Man geht nicht fremd, man lässt sich auch nicht scheiden, und Kinder müssen sein.

Maurer hatte Neelsen, Karl, gelernt, Architekt wollte er werden, es kam anders, er war lange Jahre Professor an der Hochschule für Ökonomie. Die hieß „Bruno Leuschner“, und Kapital und Mehrwert waren sein Thema; die Studenten schauten zu ihm auf. Dann kamen die Achtziger, die Mauer fiel, und Neelsens Ziele waren obsolet. Ein Schüler blieb im Westen, er schimpfte angewidert: „Hochverrat“. Und dann war auch sein Fleiß die langen Jahre über nichts mehr wert. Was würde werden aus „Prof. Dr. rer. oec. habil.“?

Neulich war Frau Neelsens Sohn da, 34 ist er jetzt. Er fragte: „Mama, wer war Karl eigentlich?“ Sie hätte es ihm gern gesagt. Judka Strittmatter

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