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Wirtschaft: Geb. 1924

Vera-Gisela Ewald

Sie kochte, während die Freundin die Wohnung in Schuss hielt, sie reparierte das Auto, während die Freundin schlaue Ratschläge gab. Am Anfang der Freundschaft stand die Frage: Gab es im 14. Jahrhundert ein Bürgertum?

Es ging immer glimpflich ab mit den Hindernissen, die in den Kurven wie aus dem Nichts auftauchten. Zuerst der Papierkorb, später der Laternenpfahl, dann der Baum. Vera-Gisela Ewald erlangte die Fahrerlaubnis mit Anfang sechzig. Die Regel lautet: Am Anfang der Kurve das Gas zurücknehmen, am Ende der Kurve leicht beschleunigen. Daraus ergibt sich die Kombination aus Sicherheit und Fahrvergnügen. Vera-Gisela Ewald tat es andersrum, gab Gas am Anfang der Kurve und drosselte dann das Tempo. Die Beifahrerin im Wartburg schloss die Augen. Edith Fründt hatte das Steuer der Freundin überlassen, weil die das Fahren so liebte.

Die offizielle Version, warum Vera-Gisela Ewald künftig wieder auf den Beifahrersitz rutschte, lautete: Aus gesundheitlichen Gründen. Und Edith Fründt schwieg, damit Vera-Gisela Ewald ihr Gesicht wahren konnte. Die beiden Frauen waren Freundinnen fürs Leben. Ihre Gegensätze machten sie unzertrennlich.

Am Anfang der Freundschaft, zu Beginn der sechziger Jahre war das, stand eine Frage, mit der sich Edith Fründt, Kunsthistorikerin am Bodemuseum, herumschlug: Gab es im vierzehnten Jahrhundert ein Bürgertum? Die Antwort kannte Vera-Gisela Ewald, Direktorin der Abteilung Feudalismus am Museum für deutsche Geschichte. Edith Fründt klopfte an die Tür des Direktorenzimmers. Vera-Gisela Ewald stand im Ruf, hochmütig zu sein. Sie war füllig, bewegte sich flink, mit ihren braunen Augen sah sie Edith Fründt fragend an. Das Gespräch dauerte etwas mehr als eine Stunde, die Freundschaft, die daraus erwuchs, fast vier Jahrzehnte.

Wenn Edith Fründt morgens auf der Suche nach einem Parkplatz mit ihrem Wartburg ums Zeughaus herumkurvte und Vera-Gisela Ewald zur Arbeit gehen sah, winkten sie sich zu. Sie verabredeten sich zu Ausstellungseröffnungen. Die Frage war geklärt: Man kann im vierzehnten Jahrhundert nicht von einem richtigen Bürgertum sprechen – von den Anfängen eines Bürgertums, das ja.

Bodemuseum und Zeughaus liegen dicht beieinander, und mit dem Wartburg war es bequem, nach der Arbeit nach Prenzlauer Berg zu fahren. Bei Edith Fründt, in der Zweiraumwohnung mit den Biedermeiermöbeln, diskutierten sie über Kunst und die schönen Dinge, wenig über Politik. Und Vera-Gisela Ewald stellte sich in die Küche der Freundin und kochte. Sie kochte mit Leidenschaft und Phantasie. Edith Fründt versteht nichts davon. Sie pflegte ihre Zimmer mit den Bücherschränken und Möbeln aus der Biedermeierzeit und wischte nach den Mahlzeiten die Soßenkleckse und Wasserränder vom Furnier. Die schweren Möbel sind das Erbe der Mutter aus Bad Doberan, die Fahrten zu ihr an die Ostsee für Edith Fründt eine Last. Vera-Gisela Ewald hätte gerne noch eine Mutter gehabt.

Die beiden Frauen fuhren zusammen die Landstraße nach Norden, kurbelten die Fenster herunter, der Wind zauste das Haar, sie schmetterten Mozarts Deutsche Tänze und schlugen den Takt bei Tempo Neunzig. Edith Fründt lenkte einhändig und genoss den Moment der Leichtsinnigkeit. Ein Problem entstand nur, wenn der Wartburg schlapp machte. Die Theoretikerin referierte am Straßenrand, was zu tun wäre, die Praktikerin hantierte mit Schraubenschlüssel und Wagenheber und hörte gar nicht hin. Vera-Gisela Ewald war sportlich und kräftig, hatte irgendwann mal gerudert und ging die Sachen auf geradem Wege an. Bald nach der Ankunft stürzte sie sich ins Meer und rief: Komm doch auch rein! Aber Edith Fründt winkte ab und schmökerte im Strandkorb. Sie schwimmt nicht und macht sich nichts aus der Ostsee.

Manchmal blieb der Wartburg zu Hause. Dienstlich, wenn ein Relief per Flugzeug von Berlin nach Amsterdam gebracht werden musste, zum Beispiel. Oder privat, wenn der Freund und pensionierte Marinearzt die Frauen in seinen Ford lud und in den Süden chauffierte. Bis zu sieben Länder bereisten die beiden Frauen in einem Jahr. Die Grenzen waren offen, die Freundinnen pensioniert und nicht mehr dabei, in den Hinterzimmern der Museen Ausstellungen zu konzipieren und Kataloge zusammen zu stellen. Edith Fründt legte fest, welche Sehenswürdigkeiten zu besichtigen waren, Vera-Gisela Ewald wählte die Restaurants aus. Sie klapperten die Freunde und Verehrer in Schweden, Holland, Belgien und Berchtesgarden ab, mit einem Abstecher zu den Salzburger Festspielen. Aber nicht nach Bayreuth. Vera-Gisela Ewald und Edith Fründt stritten. Die eine liebte Wagner und liebte es auch, wenn der Freund und pensionierte Reichsbahnrat die Motive aus Tristan und Isolde auf dem Flügel improvisierte. Die andere verließ dann das Zimmer.

Sie hatten jetzt ihre Wohnungen in derselben Straße in Prenzlauer Berg, in derselben Häuserreihe. Eigentlich aber nutzten sie nur noch Vera-Gisela Ewalds Wohnung mit den Hellerauer Möbeln, die zweckmäßig und pflegeleicht waren und stilistisch genau zu dem Haus aus den dreißiger Jahren passten. In die andere Wohnung kehrten sie nur noch zum Staubwischen der Biedermeiermöbel ein. Sie standen im vierten Jahrzehnt ihrer Freundschaft. Das Auto hatten sie abgeschafft. Edith Fründt hatte durch die Windschutzscheibe Nebelschwaden gesehen, aber Vera-Gisela Ewald auf dem Beifahrersitz festgestellt: Die Sicht ist ganz klar. Es war eine Vorsichtsmaßnahme.

Das Gehen bereitete Vera-Gisela Ewald Schmerzen. Die erste Hüftoperation war problemlos. Die zweite auch. Vera-Gisela Ewald war im Krankenhaus auf dem Weg der Besserung. Trotzdem klagte sie am Telefon über Unwohlsein. Edith Fründt wusste, dass ihre Freundin nicht wehleidig war. Sie warf sich ins Taxi und befahl dem Fahrer aufs Gas zu treten. Er nahm die Kurven schnittig. Doch das nützte nichts. Das Blutgerinsel war unaufhaltsam und auf geradem Weg zum Herzen von Vera-Gisela Ewald gewandert. Christian Schünemann

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