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Wirtschaft: Geb. 1951

Er war keiner, der sich durch Absprachen und taktische Geplänkel die Platzierung sichert. Die letzen Minuten sind eine Qual.

Er war keiner, der sich durch Absprachen und taktische Geplänkel die Platzierung sichert.

Die letzen Minuten sind eine Qual. Der Blick trübt sich ein, wird eng. Der Puls rast, pumpt Blut in die Augen. Atemnot. Jetzt kapitulieren! Warum nicht? Dem Schmerz sein Recht geben! Auf die Warnung des Körpers hören! Fallen lassen!

Nein, nicht jetzt! Nicht so kurz vor dem Ende! Aufbäumen, sich vorwärts quälen. An die Grenze gehen, darüber hinaus. Und dann die Einfahrt in den Tunnel des Leidens, der endlos scheint auf diesen letzten hundert Metern. Treten, treten, im Rhythmus die Betäubung suchen. Endlich, herbeigesehnt mit jeder Faser des Körper, nach der letzten, der wirklich letzten Pedaldrehung: die Ziellinie!

Er überquert sie als Sieger. 7. Juni 1970. Der Startschuss war um vier Uhr früh gefallen. Radfahrer sind Torturen gewohnt. Fünfzehn mal rund um den Wannsee. Jürgen Kraft deklassiert die Favoriten bei der Berliner Straßenmeisterschaft der Radamateure, mit 19 Jahren gewinnt er seinen ersten Meistertitel. Und die Art und Weise, wie ihm das gelingt, lässt die Kenner schwärmen. Kein Lutscher, der am Hinterrad fährt und die Führungsarbeit den anderen überlässt. Keiner, der sich vorab durch Absprachen und taktische Geplänkel die Platzierung sichert.

Eine Solofahrt über 60 km! Das Feld im Nacken. Verfolgergruppen, die schneller sein müssten, weil sie sich in der Führungsarbeit ablösen können. Kraft sparen, im Windschatten fahren. Aber sie kommen nicht heran. Jürgen Kraft ist ein Kämpfer und ein großes Talent. Einer, der das Zeug hat zum Profi.

In den siebziger Jahren gewinnt Jürgen Kraft mehrere deutsche Meisterschaften, er selbst führt sie gar nicht mehr einzeln auf in seinem Lebenslauf. Er nimmt an Weltmeisterschaften teil, ist in der A-Nationalmannschaft, und wird, was alle ihm prophezeiten, Berufsradfahrer, Profi.

Keiner allerdings, für den eine Mannschaft zusammengestellt wird, sondern einer, der für den Sieger fährt. Nutzlose Helden werden sie zuweilen genannt, nutzlos, was den eigenen Ruhm anbelangt. Jürgen Kraft fährt den Giro d´Italia und die Tour de France. Er könnte jetzt Jahre im Wanderzirkus der Profis durch Europa tingeln. Ein monotones Leben, trotz aller Aufregungen. Fahrt mit dem Rad zum Hotel, für alle reicht der Mannschaftswagen nicht, Zimmer, Dusche, Verpflastern, Beine hoch, abschalten, umschalten, anziehen, den ersten Happen essen, der Journalist von der Heimatzeitung, Massage in Reihenfolge, Essen an gemeinsamer Tafel . . .

Die Tourkarawane ist eine Männergesellschaft mit festen Ritualen, in der allenfalls Krankenschwestern Zutritt haben. Aber Jürgen Kraft ist verheiratet. Er hat Kinder, zwei Söhne. Mit ihnen will er Zeit verbringen, ein Zuhause schaffen. Mit Radfahren können in den siebziger Jahren nur wenige reich werden, aber alle teilen das gleiche Risiko. Ein unbeleuchteter Tunnel, eine schlecht gesicherte Abfahrt, ein Fan, der zu spät ausweicht. Tausend Gelegenheiten, fürchterlich zu stürzen, für den Wasserträger wie für den Favoriten. „Ein schlechter Tag“, sagt selbst einer wie Lance Armstrong, dem es bestimmt nicht an Mut mangelt, „und du kannst alles verlieren.“ Jürgen Kraft wählt den scheinbar sichereren Weg.

Er studiert, wird Lehrer, unterrichtet an der deutschen Schule in Rom. Aber er will, dass seine Söhne in Deutschland aufwachsen. Also zurück nach Berlin, aber in welchem Beruf? Landestrainer - ein wichtiger Job, aber ein schlecht bezahlter. Wie vieles in der Sportförderung auf Selbstausbeutung angelegt. Wenn einer in der Jugendbetreuung arbeitet, was ist das wert? Ein Händedruck und die Versicherung der Politprominenz, wie wichtig das alles sei, aber Geld?! „Sie wissen ja, wie es mit den Finanzen steht!“

Jürgen Kraft ist Sportler, kein Politiker. Er arbeitet für das Fernsehen, für die Sportredaktion natürlich, führt Interviews, recherchiert Hintergrundberichte über die Tour, und findet endlich - dank Fürsprache eines Gönners – eine Anstellung als Mitarbeiter der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus.

Ein politisches Amt für einen Sportler! Man sieht es seiner Unterschrift an, dass er damit Schwierigkeiten hatte: Standbein, Spielbein. Das Beharrliche einerseits, senkrecht fest gestellte Buchstaben im Vorn, andererseits der Wille, über sich hinauszugehen, Extreme zu suchen: der hingewischte Nachname.

Radfahrer, so lästert der Volksmund, ist einer, der nach oben buckelt und nach unten tritt. Das Gegenteil ist der Fall: Im Radsport haben Heuchler und Egoisten keine Chance, denn die Tour gewinnt man nur als Mannschaft. Auch Politik ist Windschattenfahren, aber Seilschaften in der Politik funktionieren anders als im Sport - sie sind Zweckbündnisse auf Zeit, ohne Ehrenkodex und Kameradschaftspflicht.

Jürgen Kraft war kein politisch denkender Mensch, vielleicht hat er deshalb die Risiken seines Berufs nicht erkannt. Nach den verlorenen Senatswahlen im vergangenen Jahr musste sich die CDU von vielen Mitarbeitern trennen. „Sie wissen, es steht schlecht um die Finanzen, sowohl der Stadt wie auch der Partei.“ Das wusste Jürgen Kraft, natürlich, aber damit konnte er seine Niederlage nicht begründen.

Wie fühlt sich ein Sieger, der sich unversehens ins Heer der Verlierer einreihen muss? Eine Atemnot ganz anderer Art, die er nicht ertrug. Jürgen Kraft hat sich das Leben genommen. Gregor Eisenhauer

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