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Wirtschaft: Geb. 1954

Dagmar Piechowski

In ihrem Regal liegen zwei Exemplare des Buches „Wie ich einmal sterben möchte“.

Dagmar Piechowski will es ruhig angehen lassen, an diesem Sonntag, den 21. Juli 2002, sie hat Konzertkarten für das Velodrom am Nachmittag. Sie trinkt ihren Espresso im Schlafzimmer auf dem Futon, genießt die Sommersonne im Gesicht. Als ihre Freundin anruft, schaut sie gerade nach dem Tomatenbäumchen auf dem Balkon, es ist zehn Uhr. Sie plaudern, fachsimpeln über die weißen Fliegen in den Balkonkästen, die der rankenden Kapuzinerkresse zusetzen. Den Zoobesuch heute möchte sie lieber verschieben, sagt Dagmar Piechowski, wegen des Konzerts am Nachmittag. Der Sommer ist ja noch lang, und es ist schon halb elf, das wird zu knapp. Sie legt den Hörer auf die Gabel und hat noch drei Stunden und 15 Minuten zu leben.

Der Tod ist in gewisser Weise ein Thema in ihrem Leben. Nicht, dass sie besondere Angst vor ihm hätte. Im Gegenteil. Die Ausstellung „Körperwelten“ fasziniert sie so sehr, dass sie sie mehrmals besucht, in ihrem Regal liegen zwei Exemplare des Buches, „Wie ich einmal sterben möchte“. Eines wollte sie wohl verschenken. Sie ist eine attraktive Frau in den Vierzigern, eine extravagante Erscheinung, die große Ketten aus Nepal trägt, feine Seidenblusen und Lederhosen. Sie lebt ein sehr bewusstes Leben. Sie weiß, dass es jederzeit vorbei sein kann, ohne Vorwarnung. Sie raucht seit Jahrzehnten, mehr als ihr gut tut, dann die Reisen durch Südostasien, immer ganz allein. Und natürlich das Motorrad. Eine 850er Motoguzzi, taubenblau lackiert, eine alte italienische Polizeimaschine, ihr ganzer Stolz.

Mit ihr fährt sie täglich ins Büro und abends ins Theater oder ins Konzert, in den Packtaschen transportiert sie feine Absatzschuhe und das Paillettentäschchen. Vorn auf das Windschild der Motoguzzi hat sie zwei große Augen geklebt, mit langen Wimpern und leichtem Silberblick, es sind die Augen der Callas, verrät sie, wenn man danach fragt, und fügt hinzu: „Die Motoguzzi ist vielleicht einmal mein Tod.“ Ein Unfall kann immer passieren.

Pläne, Kontakte, Informationen

An der Innenseite ihrer Haustür in der Laubenheimer Straße hat sie die Theaterkarten für die nächsten Wochen und Monate mit Magneten befestigt; zwei Dutzend sind es immer. Sie ist Mitglied im „Förderkreis für das Deutsche Theater“, offizielle „Freundin der Komischen Oper“ und Unterstützerin des Deutschen Sinfonischen Orchesters. Sie plant ihr Kulturprogramm für Monate im Voraus. Sie fährt für ein Konzert bis nach Boston, reist für einen Georg–Kreisler-Abend mit dem Bus nach Wien, für einen Auftritt des Tänzers Gregor Seyffert pilgert sie nach Dresden, nach Dessau, nach Eisenhüttenstadt.

In ihrem kleinen Taschenkalender stecken die sechs Eintrittskarten für die nächste Woche: Generalproben, Lesungen, Premieren. Leute, die sie mitnimmt zu den Abenden, dürfen nicht zu empfindlich sein, am besten auch überdurchschnittlich kontaktfreudig, so wie sie. Dagmar Piechowski begrüßt die, die sie kennt, und das sind viele. Tänzer, Sänger, Bühnenbildner, Schauspieler, viele alte Bekannte, für die sie Neuigkeiten hat, Zeitungsausschnitte, Lob, auch Kritik, Anregungen, Tipps. In der Kantine der Komischen Oper geht sie ein und aus. Manchmal kann es Stunden dauern, bis sie an ihren Platz zurückkehrt und feststellt, dass die Begleitung noch immer auf sie wartet.

Wenn Dagmar Piechowski einmal von Angst spricht, dann ist es die Angst, nicht genug gelebt zu haben. Wenn Krankheit, Alter und Gebrechlichkeit zu ihr kommen sollten, will sie von etwas zehren können: von einem übervollen Leben, einem Meer von Erinnerungen. In ihren Taschenkalender notiert sie nicht nur Termine, sondern auch Optionen: Festivals, Konzertreisen, Gastspiele, die sie besuchen könnte, falls andere Termine ausfallen. Sogar das Fernsehprogramm forstet sie akribisch durch. Hunderte von Videokassetten füllen die Regale ihrer Wohnung. Wenn der eigene Videorecorder bereits arbeitet, bittet sie Freunde, etwas für sie aufzuzeichnen. Und nachts sitzt sie vor dem Computer und sucht nach Informationen über Tanz und Theater im Internet.

Verfolgung in Havanna

Wenn Dagmar Piechowski vor etwas keine Angst hat, dann sind es Menschen. Fremde Menschen, prominente Menschen, mächtige Menschen, Menschen mit Problemen, mit Krankheiten. Sie springt auf sie zu, spricht jeden an, dem sie was zu sagen hat, für den sie sich interessiert. Die Kollegin mit Multipler Sklerose zum Beispiel oder die depressive Freundin. Ihr Interesse ist aufrichtig, ungewöhnlich intensiv. Sie hat keine Angst nachzufragen, wie sich das anfühlt, mit so einer Krankheit zu leben, und sie helfen kann. Sie spricht Peter Strieder an, wenn sie ihn zufällig vor dem Kulturforum trifft, oder den neuen Dirigenten in der Komischen Oper. „Nun lass ihn doch erst mal“, sagt die Freundin zu ihr nach der Generalprobe, „er ist doch noch ganz außer Atem.“ Doch da steht Dagmar Piechowski schon längst neben ihm, in ein Gespräch vertieft.

Nach Kuba hatte sie noch weniger Angst vor den Menschen als davor. Im Gefolge einer verehrten Tänzergruppe war sie im Februar 1998 nach Havanna gereist, zu einem Tanzfestival. Gleich nach der Ankunft wurde sie überfallen. In einer schwarzen Bauchtasche trug sie ihr Geld, das Flugticket, den Pass und alle Karten für das Festival. Sie warf sich auf den Boden, um die Tasche mit ihrem Körper zu schützen, doch als sich dabei der Riemen löste, konnte der Dieb zugreifen. Sie sprang hinterher, versuchte ihn festzuhalten, nahm die Verfolgung durch die Straßen Havannas auf. Vergeblich.

Aber ein Achtungserfolg war’s doch für sie. Der Mann konnte ihr nur entkommen, weil er auch noch ein Fahrrad stahl. „Natürlich musste ich mich wehren“, sagte sie, „ich würde es wieder tun.“ Die Verzweiflung kam später. Sie saß da ohne alles, und von der Deutschen Botschaft bekam sie 20 Dollar, mit denen sie gerade Fotos für einen Ersatzausweis machen konnte.

Geld vom kleinen Bettler

Als sie am Abend auf einer Parkbank saß und ein kleiner Junge sie anbettelte, erzählte sie ihm, was ihr passiert war. Da schenkte er ihr ein wenig Geld von dem, was er erbettelt hatte. Den Jungen hat sie nicht vergessen, auch nicht, als sie schon längst wieder in Deutschland war. Auch nicht die Freude darüber, dass sie jede Vorstellung sehen konnte, obwohl ihre Karten gestohlen waren. Man ließ sie eben durch den Bühneneingang rein, kein Problem. Und ein kubanischer Tänzer half ihr mit etwas Geld zum Leben aus. Sogar die Tasche ließ sie sich ersetzen. Nachdem sie wieder in Deutschland war, schrieb sie eine Beschwerde an die Herstellerfirma und reklamierte die groben Sicherheitsmängel des Bauchgurtes, der sie im Augenblick der Not im Stich gelassen hatte. So was muss man sich ja nicht gefallen lassen.

Das Ersatzmodell schnallt sie sich um, an diesem Sonntag, den 21. Juli 2002, und ihre Kamera nimmt sie auch mit, als sie ihre Wohnung verlässt. Es muss ein paar Minuten vor elf sein, denn als wenig später eine Bekannte das Telefon klingeln lässt, hebt sie bereits nicht mehr ab. Wie jeden Tag legt Dagmar Piechowski ihrer Nachbarin die ausgelesene Zeitung vor die Tür, wie immer mit kleinen Anstreichungen und Kommentaren. Sie trägt ein schulterfreies Oberteil unter der Lederjacke, die langen, braunen Haare bindet sie sich zum Zopf zusammen und versteckt sie unter dem weißen Helm. Sie fährt zuerst in Richtung Zehlendorf, zur Gärtnerei Rothe, wegen der Schädlinge auf dem Balkon. Dann knattert sie auf der Motoguzzi in Richtung Neukölln, vor dem Friedhof Lilienthalstraße bleibt sie stehen.

Gegen halb eins beginnt es zu regnen, ein kurzes, heftiges Gewitter.

Dagmar Piechowski wartet den Schauer im steinernen Eingangstor des Friedhofs ab. Sie will dort fotografieren, das Denkmal für die Trümmerfrauen, die Gräberwiesen für die unbekannten Toten des Zweiten Weltkriegs, sie hatte es sich schon länger vorgenommen. 15 Mal drückt sie auf den Auslöser, versucht, das Gewitterlicht einzufangen, während sie langsam die Südmauer in Richtung Planquadrat A 13 entlangspaziert. Es ist etwa 13 Uhr 45, als dort, an einem Brunnen ihr Mörder vor ihr steht. Mit einem Messer sticht er zu, ganz oft. Ein Spaziergänger in der Hasenheide hört ihre Schreie, doch jede Hilfe kommt zu spät.

Ein verwirrter Mann

Zeugen haben auf dem Friedhof nur einen Verdächtigen gesehen; einen offenbar verwirrten Mann, groß, mit blondem Haar und Geheimratsecken, der über die Gräber stolperte, sich hier und da zum Beten niederkniete und seine Jacke an- und wieder auszog. Eine „Beziehungstat“ schließt die Polizei aus, ebenso Raub und ein Sexualdelikt. Dagmar Piechowski hat niemandem davon erzählt, dass sie an diesem Vormittag auf den Friedhof gehen wollte. Es war eine spontane Idee. Wäre sie doch bei ihrem Plan geblieben, wie sie es sonst auch tat. Dann hätte sie den Zoo besucht.

Die Beamten der siebten Mordkommission dachten zunächst, es würde nicht schwer werden, den Mann zu finden. Besucher hatten ihn schon häufig auf den Friedhöfen um den Südstern herum gesehen. Drei Monate nach dem Mord klingen die Ermittler resigniert. Es gebe, sagen sie, in dieser Stadt einfach zu viele blonde, verwirrte Männer mit Geheimratsecken.

Was zwischen Dagmar Piechowski und dem verwirrten Mann geschehen ist, darüber gibt es nur Spekulationen. Vermutlich machte sie keinen so großen Bogen um ihn, wie die anderen Friedhofsbesucher, vermutlich war sie neugieriger, offener. Vielleicht hat er versucht, sie zu berauben, und sie hat ihn festgehalten, wie damals den Dieb auf Kuba. Vielleicht wollte sie ihm auch helfen, wollte ihn ansprechen, und er ist durchgedreht.

Die Polizei hat weder die Waffe gefunden, noch ein Motiv. „Wir wissen nichts über den Täter“, sagt der Leiter der Mordkommission, „aber viel über das Opfer. Wir wissen, dass Dagmar Piechowski kein Mensch war, der wegschaut oder der wegläuft.“ Polizeipsychologisch gesehen war sie das Gegenteil von einem Opfer. „Sie war außergewöhnlich furchtlos“, sagen ihre Freunde, „und sie kam ganz gut klar damit.“ Bis zu diesem 21. Juli 2002. Kirsten Wenzel

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