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Wirtschaft: Georg Reinhard Henkys

Geb. 1928

Vom kollektiven Trauma sprach er. Nicht vom eigenen. Als die Mauer gebaut wurde, erschien West-Berlin so manchem als schwankende Eisscholle, ängstliche Gemüter verließen die Stadt. Reinhard Henkys aus Bielefeld nahm das nächste Flugzeug, um so möglichst schnell in der Frontstadt zu sein. Seine Mission: für den Evangelischen Pressedienst über die DDR berichten, besonders über die Kirchen und Gemeinden.

Mit Pfarrhäusern jedenfalls kannte sich der junge, auffällig ernste und introvertierte Journalist aus. In einem Pfarrhaus auf der Kurischen Nehrung war er groß geworden. Volksschule in Heiligenkreutz, Mittelschule in Palmnicken, Gymnasium in Königsberg. Als schmächtigen Jungen hat man ihn in Erinnerung, ein Bücherwurm, der Raufereien aus dem Wege ging. Vom Haus der Eltern aus konnte er, wenn er auf die Gartenbank stieg, die Brandung der Ostsee sehen.

Als Hitler an die Macht kam, war Reinhard Henkys fünf Jahre alt. Mit 16 wurde er Soldat, einer von den Luftwaffen- und Flakhelfern im „Kessel Kurland“, der noch erbittert gehalten wurde, als der größte Teil des deutschen Reiches schon in der Hand der Alliierten war. Was er in den letzten Kriegstagen erlebt hatte, muss ihn für sein ganzes Leben geprägt haben.

Es brachte ihn jedenfalls als jungen Journalisten während der Nürnberger Prozesse sehr früh in die Ludwigsburger Archive, wo die Justizunterlagen zu den NS-Verbrechen gesammelt wurden. Eine Recherche, die ihn, der ohnehin selten lachte, noch ernster machte, die ihm körperlich und seelisch zusetzte, und die er 1961 unter dem Titel „War es wirklich alles so schlimm?“ veröffentlichte. 1964 erschien sein Buch „Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen“.

Mit dem Mauerbau wurde die DDR zum Thema und zur praktischen Lebensaufgabe – so lange wie die Mauer stand. Täglich reiste er von einer Welt in die andere, mit den Jahrzehnten wurden ihm selbst die Formalitäten im Tränenpalast zur Routine. Mit der Familie wohnte er in Zehlendorf, zur Arbeit fuhr er in sein Büro in Moabit und von da über den Grenzbahnhof Friedrichstraße nach Ost-Berlin. Dort besuchte er Pressekonferenzen und knüpfte über die Jahre ein enges Kontaktnetz zu Kirchenleuten und Politikern. Er recherchierte nachdrücklich – doch auch so vorsichtig, dass ihm nie die Ausweisung drohte. Die kostbaren, mit langsamer Vertrauensarbeit gewonnenen Einsichten trug er über die Grenze, um den Westdeutschen die besondere Situation der Christen in der DDR zu erklären, überhaupt die Welt „da drüben“, von der man im Westen so wenig wusste, und für die sich die meisten zu seinem Bedauern auch nicht sonderlich interessierten.

Als „Brückenbauer zwischen Ost und West“ ehrte man ihn später mit dem „Karl-Barth-Preis“, was ihn aber nicht darüber hinwegtröstete, dass sein Büro gleich nach dem Ende der DDR geschlossen worden war, als gäbe es nun keinerlei Vermittlungsbedarf mehr zwischen den Welten Ost und West. Ein paar Übersetzer, meinte er weitsichtig, hätten den aufeinander prallenden Kulturen gut getan.

Doch das diplomatische Personal des Kalten Krieges hatte ausgedient. Neue Zeiten, Generationenwechsel. „Deutschlandpolitik“, das Thema, in dem er ganz aufgegangen war wie vorher in der deutschen Geschichte, das gab es plötzlich nicht mehr. Themen, die zwar auch von den eigenen Lebensbedingungen handelten, doch ohne den Zwang, das eigene Schicksal jemals ins Licht zu heben. Henkys behielt diese Haltung, die Haltung einer ganzen Generation, in der man eher von einem kollektiven Trauma sprach als von seinem eigenen. Vor fünf Jahren schrieb er einen Text für die „Zeit“. Unter der Überschrift „Endlösung am Bernsteinstrand“ berichtet er in seinem sachlichen, genauen Ton von Massakern an jüdischen Frauen und von 16-jährigen Hitlerjungen, die diese Frauen bewachten und bei ihrer Erschießung halfen. Von Gleichaltrigen schreibt er, aus dem Ort Palmnicken, in dem er selbst einige Zeit früher zur Schule gegangen war. Was ihm damals in Ostpreußen widerfahren ist, darüber, so sagt noch der Pfarrer in seiner Trauerrede, hat Reinhard Henkys bis zum Schluss niemals gesprochen.

Kirsten Wenzel

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