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Wirtschaft: Gesundheitssystem: Englische Patienten mit Fernweh

Wie zu Zeiten Marco Polos bringen britische Reisende auch heute noch erstaunliche Geschichten aus der Ferne mit nach Hause - Geschichten über die Gesundheitssysteme anderer Länder. Sie erzählen, dass sie weniger als eine Stunde warten mussten, um einen Arzt zu Gesicht zu bekommen.

Wie zu Zeiten Marco Polos bringen britische Reisende auch heute noch erstaunliche Geschichten aus der Ferne mit nach Hause - Geschichten über die Gesundheitssysteme anderer Länder. Sie erzählen, dass sie weniger als eine Stunde warten mussten, um einen Arzt zu Gesicht zu bekommen. Oder sie berichten von sauberen Krankenhäusern. Eine überraschende Entscheidung des britischen Gesundheitsministers Alan Milburn ermöglicht nun tausenden kranker Briten einen Trip in eine andere Welt.

Krank werden im Ausland - das ist für viele Briten ein Geschenk. Zum Beispiel für den Journalisten Stephen Pollard. Auf dem Weg in die französischen Alpen stürzte er beim Aussteigen aus dem Zug und brach sich Arm und Handgelenk. Er wurde ins Krankenhaus gebracht. Statt eine Ewigkeit auf verdreckten Fluren warten zu müssen, wurde er nach wenigen Minuten von freundlichen Schwestern versorgt und konnte innerhalb einer Stunde das Krankenhaus wieder verlassen. Für nicht-britische Leser mag das selbstverständlich sein - für Pollard nicht. Wieder zu Hause, berichtete er in einer Londoner Tageszeitung von seinem Erlebnis. Ungläubige Reporter riefen ihn an, Radiomoderatoren wollten ihren Ohren nicht trauen, und auch die britischen Leser und Hörer waren hoch erstaunt.

Die Briten machen keinen Hehl daraus, dass mit ihrem Gesundsheitssystem etwas nicht stimmt. Sogar Krankenhauspersonal aus dem Ausland muss rekrutiert werden, weil Ärzte, Schwestern und Pfleger fehlen. An Horrorgeschichten über die Versorgung hingegen mangelt es nicht. Die Krankenhäuser sind bekannt für ihre verdreckten Flure, für das mürrische, überarbeitete Personal und für fehlende moderne Apparate.

Berühmt-berüchtigt sind auch die endlosen Wartelisten. Zur Zeit umfassen sie eine Million Menschen. Dies bringt uns zurück zu Milburn und seinem Beschluss. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg fällte im Juli zwei Urteile. Eines betraf eine Holländerin, die an Parkinson leidet und in Deutschland behandelt werden will, das andere einen Holländer, der eine Behandlung in Österreich wünscht. Das Gericht befand, dass die Patienten ein Recht darauf haben, in anderen EU-Ländern behandelt zu werden - auf Kosten des eigenen Staates, wenn sie zu Hause mit "unzumutbaren Verzögerungen" konfrontiert werden. Der britische Gesundheitsminister sinnierte dann fast den ganzen Sommer darüber, ob dieses Urteil wohl auch für Großbritannien gelten könnte. Milburn beschloss: Es gilt. Er verkündete, dass die Briten sich überall in der EU behandeln lassen könnten - auf Kosten des Staates.

Allerdings ist sich die Regierung noch immer nicht einig, was denn eine "unzumutbare Verzögerung" ist. Sind 180 Tage für eine Herzoperation "unzumutbar"? Nach dem Stand der Dinge werden im Januar 20 000 Briten für eine Behandlung nach Deutschland reisen. Das ist weniger als die Hälfte derer, die in Großbritannien länger als ein Jahr auf eine Behandlung warten. In Deutschland gibt es keine Wartelisten, dafür aber Überkapazitäten bei Betten und Ärzten. Deshalb war für die Deutschen die Entscheidung der Briten ein Geschenk Gottes. Die deutschen Krankenhäuser erklärten, sie könnten 2002 eine Million Briten versorgen - also fast all jene, die auf der Warteliste stehen. Während also die leidgeprüften Briten ihre Flugtickets buchen, könnten sich die Politiker schon Gedanken über die Folgen eines solchen Gesundheitstourismus machen. Denn die Reisenden werden am eigenen Leib erfahren, welchen Versorgungsstandard andere Staaten haben und sich fragen, warum Großbritannien so weit hinterherhinkt.

Aus Wall Street Journal. Übersetzt, gek&uu

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