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Wirtschaft: Gut gebildet in die Lehre

Immer mehr Abiturienten ziehen eine Berufsausbildung dem Studium vor – zur Freude der Betriebe

Es riecht nach Abflussrohr und faulen Eiern. „Das ist der Kunststoff für die Brillengläser, der gerade erwärmt wird“, sagt Christina Krause. „Jedes Material riecht anders, eins zum Beispiel nach Kirschlollis“. Die 22-Jährige ist angehende Augenoptikerin im zweiten Lehrjahr beim Optiker Andreas Wittig am Steubenplatz in Westend. Sie selbst fertigt gerade aus Aceton zwei bunte Ringe an, mit Laubsäge und Feile. Die haben noch nichts mit Brillen zu tun. Aber mit der Präzision, die man als Optikerin lernen muss.

„Dieses ganz genaue Arbeiten hat mich fasziniert. Ich wollte lernen, etwas mit meinen Händen anzufertigen“, begründet Christina Krause, warum sie sich als Abiturientin für eine Ausbildung im Handwerk entschieden hat – für Gestank, Werkstatt und Werkzeuge statt für Computer, Schreibtisch oder Hörsäle. „Ich wollte nicht nur studieren, weil man das mit Abitur kann.“ Das war nicht der einzige Grund: „Ich wollte auch lernen, Verantwortung zu übernehmen und Umgang mit Menschen haben. Es ist toll, wenn man jemandem helfen kann, besser zu sehen.“ 80 Prozent ihrer Mitschüler in der Berufsschule sind ebenfalls Abiturienten.

Stadtweit beginnt inzwischen fast jeder sechste Lehrling die Handwerksausbildung nach dem Abitur oder der Fachhochschulreife (siehe Infokasten). „Wir sind auf einem guten Weg, hochqualifizierten Nachwuchs als zukünftige Fachkräfte zu etablieren“, sagt Ulrich Wiegand, Geschäftsführer und Leiter der Abteilung Ausbildung bei der Handwerkskammer. Sprecherin Susan Shakery sieht keinen Verdrängungswettbewerb: Für bestimmte Berufe würden „sowieso Leistungsstarke gesucht, und die Lehrstellen werden nur mit solchen besetzt“. Besonders in den Bereichen Elektrik und Elektronik seien die Anforderungen stark gestiegen. Für Kfz-Mechatroniker etwa reiche der Hauptschulabschluss in der Regel nicht mehr aus. Vielerorts könnten Haupt- und Realschüler aber von der Unterstützung durch Lehrlinge mit Abi profitieren – in den meist kleinen Handwerksbetrieben sei „Kollegialhilfe an der Tagesordnung.“

Ähnlich sieht es Gerd Woweries, Leiter des Bereichs Ausbildung bei der Industrie- und Handelskammer (IHK): „Wir haben Berufe mit völlig unterschiedlichen Anforderungen.“ Abgesehen davon stünden Interessenten zahlreiche unbesetzte Lehrstellen zur Wahl. Von Verdrängung könne also nicht die Rede sein. Aus Sicht beider Kammern haben Abiturienten in Lehrberufen aber oft besonders gute Chancen auf einen festen Arbeitsplatz und den raschen Aufstieg in Führungspositionen.

Auch Sarah Djouchadar ist eine von vielen Abiturienten in ihrer Berufsschulklasse. Etwa die Hälfte hat wie sie die Hochschulreife. Die 21-Jährige macht im zweiten Lehrjahr eine Ausbildung zur Orthopädiemechanikerin und Bandagistin bei der Paul Schulze Orthopädie und Bandagen GmbH an der Wiener Straße in Kreuzberg. „Ich wollte Menschen helfen und etwas machen, dass mit Medizin zu tun hat. Aber beim Studium gibt es ja das Problem mit dem Numerus Clausus.“ Ihr Vater ist Chirurg und schlug die Ausbildung vor. „Ich hatte den Hintergedanken: Wenn etwas schief läuft, kann ich immer noch studieren.“ Doch nun will sie im Beruf bleiben: „Ich könnte noch Orthopädietechnik studieren, aber damit geht man dann eher in Richtung Entwicklung und arbeitet nicht mehr so viel direkt mit Menschen.“ Und das ist ihr besonders wichtig: „Es ist toll, wenn Menschen mithilfe unserer Prothesen wieder laufen können.“ Man hilft den Kunden im wahrsten Sinne des Wortes auf die Beine. Noch darf sie das nicht selbst machen, sie lernt erst einmal Anatomie, aber auch feilen,fräsen, sägen und die Unterschiede zwischen Holz und Metall.

Ihre Ausbildungsleiterin im Betrieb, Petra Menkel, spricht voller Lob über sie – und Abiturienten als Lehrlinge im Allgemeinen: „Sie sind besonders motiviert, haben gute Ideen und können auch mal quer denken.“ Man merke da doch einen Unterschied zu Auszubildenden mit einem mittleren Schulabschluss. Trotzdem mache der Betrieb das Abi nicht zum Einstellungskriterium.

Anders die Kreuzberger Tischlerei und Zimmerei Kernholz. Bei der Lehrstellenbörse der Handwerkskammer sind sie der einzige Betrieb, der die Hochschulreife als Voraussetzung nennt. „Abiturienten haben mehr Durchhaltevermögen, und ihre Bewerbungen sind meistens ernster gemeint“, sagt Geschäftsführer Ulrich Link. Sein Azubi Nils Sensen hat nicht nur Abitur, sondern sechs Semester Wirtschaftsingenieurwesen studiert. „Dabei haben mir der klare Rhythmus und die klare Linie gefehlt. Hier habe ich das gefunden“, sagt der 26-Jährige. „Im Studium muss man so viel Sinnloses tun, nur weil es so vorgeschrieben ist. In der Ausbildung habe ich immer ein sinnvolles Ergebnis.“ Dem Auszubildenden im ersten Lehrjahr macht es gar nichts aus, dass er an diesem Tag nichts bauen darf, sondern Holzteile so zurecht stapeln muss, dass man sie gut in einen Lastwagen packen kann – unterfordert fühlt er sich nicht. Auch nicht in der Berufsschule. „Ich hatte da ja so meine Befürchtungen. Aber die haben extra eine Tischlerklasse nur für Abiturienten eingerichtet.“

Etwa die Hälfte seiner Lehrlinge fange später ein Studium wie Architektur an, sagt Firmenchef Link. Für Sensens Kollegen Marco Brückner kommt das aber nicht in Frage: „Ich habe vor dem Abi lange genug die Schulbank gedrückt“, sagt der 24-Jährige und sägt Löcher in ein Stück Holz. „Ich wollte nie studieren.“

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