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Wirtschaft: Horst Dühring

(Geb. 1930)||Der Krieg hatte Königsberg nicht zerstört. Er hatte es schrumpfen lassen.

Der Krieg hatte Königsberg nicht zerstört. Er hatte es schrumpfen lassen. Ein kleiner Mann mit sauber gestutztem Bart, einem perlenverzierten Ring am kleinen Finger und einem Kranz von Lachfältchen um die blauen Augen. Das ist der eine Horst Dühring, der glückliche. Der daheim kleine Einhörner herstellt, Schmuckschatullen und Stirnreifen. Der elfenhafte Wesen, schöne Männergesichter und friedliche Schneelandschaften malt. Der singt und Akkordeon spielt, Orgel, Klavier und Gitarre. Der seinem Freund einen künstlichen Kamin und Blumenbänke baut.

Der andere Horst Dühring ist leicht reizbar und hat einen misstrauischen Blick. Er malt eine nackte Puppe. Der linke Fuß ist angenäht, der rechte Arm fehlt. Um den starren Hals baumeln zwei viel zu große Ketten. An der einen hängt das christliche Kreuz, an der anderen das Hakenkreuz. Über der Puppe schwebt ein Blut speiender Drache. Dieser Horst Dühring tippt in seine Schreibmaschine: „Ich schreibe meine Erinnerungen an die Hölle von Königsberg aus den Jahren 1945-1948 auf. Das tut mir gar nicht gut.“

„Formulieren wir es mal so“, sagt sein Freund, „er und auch die Mutter und die Schwester sind von Besatzungssoldaten schwer misshandelt worden.“ Rund herum nur Hunger, Krankheiten, Kälte und eine vollkommen zerstörte Stadt.

„Schließlich“, tippt Horst Dühring in die Maschine, „wurden wir in Viehwaggons geworfen, wir waren der schäbige Rest.“ Da war aus Königsberg Kaliningrad geworden. In Thüringen fand die Familie eine neue Bleibe.

„Horst Dühring war wie ein Kind“, beschreibt ihn ein enger Vertrauter, „das mit weit ausgestreckten Armen umherläuft und nach Liebe ruft.“ Seine Eltern haben diesen Ruf überhört. Sie ärgerten sich über den gleichermaßen empfindsamen wie störrischen Jungen, der ihre Wohnung mit seinen nutzlosen Basteleien übersäte.

Zum Architekturstudium ließ man ihn nicht zu. Er studierte Schulmusik in Weimar, flüchtete als 27-Jähriger über Berlin nach Frankfurt am Main und schloss dort ein Gesangsstudium „mit Bühnenreife“ ab. Der Sohn des Handwerkers war Sänger geworden.

„Weißt du“, sagte er, als er mit seinem Freund ein besonders schönes Weihnachten verbrachte, „eigentlich brauche ich immer Harmonie.“ Keine gute Voraussetzung, um im eitlen Bühnenbetrieb zu bestehen. Er trat ein paar Mal auf, dann wechselte er in den Schuldienst. Doch ist aus seinem zerrissenen Gemüt nie eine Beamtenseele geworden. Er ist kaum in den Urlaub gefahren und hat nie einen Fernseher besessen. Sobald sich die Wohnungstür hinter ihm schloss, griff er zu Papier, Farbe, Gips und Pinseln. Dann begann er seinen Kampf mit den Dämonen der Vergangenheit oder ließ sich leiten von der Sehnsucht nach einer unschuldigen, friedlichen Welt.

41 Jahre war er alt, als er beschloss, alle Kriegsspuren zu tilgen. Er begann mit seiner Königsberger Taufkirche. Hier, in Herford, ließ er sie maßstabsgetreu wieder auferstehen. Zwar war sie um das Zweihundertfache verkleinert, also etwa so groß wie Horst Dührings Oberarm, doch kein Dachziegel, kein Zierrat, nichts fehlte. Zehn Jahre später stand das historische Königsberg komplett in Horst Dührings Wohnung. Wenn man den Meister neben seinem Werk sah, geriet man ins Grübeln, ob Horst Dühring ein Riese war oder die Häuser Miniaturen, so perfekt schienen die Nachbildungen.

Der Krieg hatte Königsberg nicht zerstört. Er hatte es nur schrumpfen lassen. Auch das alte Berlin erlebte unter Horst Dührings Fingerspitzen eine Auferstehung. In alter Pracht glänzten das Stadtschloss, der Reichstag, der Lustgarten, das Zeughaus, der Dom, der Pariser Platz und das Alte Museum, vor dem ein fingernagelgroßer Sankt Georg mit dem Drachen kämpft. Als die „Gesellschaft Historisches Berlin“ Fotos von seinen Berlin-Modellen in die Hände bekam, nahm sie sofort Kontakt zu ihm auf. Man bot ihm Ausstellungsräume, unterstützte ihn in seinem Umzug nach Berlin und darin, das Stadtzentrum der zwanziger Jahre zu komplettieren.

So lange sein filigranes Werk Bewunderung und Applaus erntete, ähnelte Horst Dühring mit seinem weißen Bart, dem runden Gesicht und den strahlenden Augen einem Weihnachtsmann. Dann fühlte er sich erkannt: Ein Friedensbringer war er, einer, der den Leuten zeigte, „wie schön es einmal war.“ Die Schönheit einer Stadt vor dem großen Weltkrieg. Die Harmonie einer Seele, bevor die Gewalt über sie hereinbrach.

Wer sich aber respektlos zeigte und etwa sein Modell verrückte, nur um Platz für ein paar Stühle zu machen, oder vielleicht „preußischer Militarismus“ vor sich hingrummelte, der hatte gar keine Ahnung, was er da anrichtete. Horst Dühring selbst war ebenso empfindlich wie seine Häuser aus Pappe und Balsa-Holz. „Ich brauch’ euch doch alle gar nicht!“, schimpfte er. Wer dann insistierte oder gar das Leid seiner Jugend, von dem er oft berichtete, zu relativieren gedachte, der brachte ihn ganz aus der Fassung. Dann kam es vor, dass Horst Dühring damit drohte, sein Werk zu vernichten. Und alle erschraken, denn ein Besenstiel hätte genügt, um die zierlichen Gebilde in einen Trümmerhaufen zu verwandeln.

Der Schmerz blieb immer da. Er hat ihn nie betäubt. Er goss ihn in die Gesichter seiner Skulpturen, in die Farben und Motive seiner Bilder. Auch diese Arbeiten hätte er gerne gezeigt. Nur gab es niemanden, der ihn darin unterstützte.

In der Modellbau-Gruppe, mit der er sich jeden Dienstag traf, um „Unter den Linden“ wieder herzustellen, herrschte eine Atmosphäre der Hingabe, des Respekts und der Behutsamkeit. Es herrschte der Frieden, nach dem er sich sehnte.

Drei Wochen vor seinem Tod hat ein Freund ihm die Nachricht überbracht, dass das gesamte Königsbergmodell nun in eine Dauerausstellung bei München übernommen wird. „Da hat er geheult vor Glück.“

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