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Wirtschaft: Ilse Schüffner

(Geb. 1906)||„Ich bin gern auf dieser Erden, möcht am liebsten 100 werden.“

„Ich bin gern auf dieser Erden, möcht am liebsten 100 werden.“ Ein kleines rotes Buch am Straßenrand, irgendwo zwischen Schlesien und Schwerin. 1945, Kriegsende. Auf der ersten Seite steht: „Am 28. Oktober, 9 Uhr, kam unser Peterlein zur Welt.“

Es ist das Tagebuch, das Ilse Schüffner für ihren Sohn geschrieben hat, jeden einzelnen Tag hat sie festgehalten, seit seiner Geburt. Peter Schüffner zeigt die Schmutzspuren auf den hinteren Seiten: „Man kann noch an den Flecken sehen, wie es damals im Straßengraben gelegen hat.“

Ilse Schüffner war mit ihren drei Kindern auf dem Weg von Schlesien zurück nach Berlin, da wurde der LKW überfallen, und das Buch ging verloren. Ihre Schwester, die später denselben Weg ging, fand es am Straßenrand.

Ilse Schüffner hatte zwei große Leidenschaften: ihre Familie und das Schreiben über die Familie. 1930 lernte sie ihren Mann Kurt kennen. Sie mussten hart füreinander kämpfen, weil er katholisch war und sie evangelisch – die Eltern waren gegen die Liebe. Doch Ilse Schüffner war eine starke Frau und wenn es um Menschen ging, die sie liebte, konnte sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen. Ihre Anstellung als Sekretärin gab sie auf und widmete sich ganz der Familie. Seitdem brachte sie Seite um Seite ihr Leben aufs Papier, zunächst in Notizbüchern, später mit der elektrischen Schreibmaschine.

„Morgens bis 10 Uhr geschlafen, Kurt und ich Kartoffelpuffer gegessen, ich nach Zehlendorf gefahren.“

Daneben klebte sie Telegramme, Konzertkarten, Zeitungsartikel. Die Verse, Tagebücher und Familienchroniken, die sie verfasste, füllen ein Bücherregal.

Die Geschichte ihrer Vorfahren hat sie bis ins Jahr 1699 zurückverfolgt. Zusammen mit ihrem Mann durchforstete sie Archive und suchte immer wieder Orte auf, wo einer ihrer Ahnen vermerkt war. Sie stieß auf einen Gärtner, der Friedrich dem Großen Frühkirschen nach Sanssouci schickte und auf einen Bäcker aus Nordfrankreich, der sich im 17. Jahrhundert in Schöneberg niederließ. „Es ist ein Segen zu solch großer Familie zu gehören“, schrieb sie „An meine Nachkommen“. Auf Familienfotos posiert sie, immer lachend, genau in der Mitte mit eleganten Kleidern, mal am Strand die Enkel um sich geschart, meistens mit einem schicken Hut auf dem Kopf.

Ihr Haus war immer voll, oft beherbergte sie Gäste aus ganz Europa. „Unsere Party war wirklich ’ne Wucht. Man braucht immer eine andere Art es aufzuziehen, sonst wird’s langweilig. Aber über Mangel an Ideen konntet ihr euch bei eurer Mutter ja noch nie beklagen.“

Maskenbälle liebte sie über alles; einmal verkleidete sie sich als uralte Frau, so dass selbst ihr Mann sie nicht erkannte. Nicht einmal, als er mit ihr tanzte. „Ich habe ganz außergewöhnliche Großeltern“, schrieb ihr eine Enkelin in ein Album zum 80. Geburtstag. „Wer hat schon eine Oma, die mit in den Skiurlaub fährt und dort sprudelnde Badefeste veranstaltet? Oder als Erste mit mir quer durch Berlin rast, obwohl ich erst ein paar Stunden meinen Führerschein habe?“

Die Großmutter reimte: „Auch wenn es manchmal zwickt und zwackt / und mal ein Wehwehchen packt, / hab ich trotzdem Freud am Leben. / Ich bin gern auf dieser Erden, / möcht am liebsten 100 werden.“

Dann starb ihr Mann, und auf einmal schrieb sie kaum noch etwas auf.

„Kurtel, ich bin so allein, du fehlst mir so sehr, wo nehme ich nur die Kraft noch her. Ich geh allein den schweren Weg, vor mir kein Licht, nicht der kleinste Steg.“

In ihrem letzten Jahr, als ihre Kinder sie rund um die Uhr pflegten, rief sie „Hallo!“, wenn mal für ein paar Minuten niemand im Raum war.

Als sie gar nichts mehr in ihr Tagebuch schrieb, machte ihr Sohn Peter für sie weiter, ganz in ihrem Sinne: „Es ist zwar noch etwas Zeit bis Weihnachten, trotzdem mache ich mir schon Gedanken über die Geschenke für meine Urenkel.“

Auf der allerletzten Seite steht: „Epilog: Am 21. Juni 2006 um 4 Uhr ist unsere Mutti und Omi verstorben.“

Das war vier Tage nach ihrem 100. Geburtstag. Daneben klebt ihre Todesanzeige.

Sandra Stalinski

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