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Wirtschaft: Ines Wellauer

(Geb. 1960)||Sie füllte Wasser in den Champagner und kümmerte sich um den Mond.

Sie füllte Wasser in den Champagner und kümmerte sich um den Mond. Die Handschrift auf einer ihrer letzten Urlaubskarten ist kantig, gekritzelt. Keine schwungvollen Bögen wie in ihren früheren Briefen. Auf dem Bild ein Gletscher, ein Fluss, vereist auf seinem Weg ins Tal, die Oberfläche gewölbt mit Zapfen und Buckeln, als wäre das Wasser im Plätschern erstarrt.

Zu diesem Zeitpunkt saß Ines Wellauer bereits im Rollstuhl. Multiple Sklerose, eine Krankheit, die die Nervenbahnen nach und nach erlahmen lässt. Als würden sie einfrieren.

Als ein Augenarzt die Diagnose zum ersten Mal beiläufig andeutete, war Ines empört. Das kann man doch nicht einfach so sagen. Und: Das kann doch nicht sein! Sie schob es weg, sprach nicht darüber.

Die Krankheit passte nicht zu ihr. Sie hatte ihr Leben in der Hand.

Als Arzttochter in Zürich aufgewachsen, erlebte sie die Unruhen der autonomen Jugendbewegung an vorderster Front. Ein Gummigeschoss aus dieser Zeit bewahrte sie noch jahrelang in ihrem Regal auf. Gemeinsam mit Freunden ging sie dann nach New York, Schauspiel und Regie studieren. Da war sie gerade 22. Doch die Chancen selbst an den Off-Broadway-Theatern standen schlecht, zumal für sie als Zugereiste. So kam sie zurück nach Europa, schließlich nach Berlin an die Schaubühne und wurde Regieassistentin. Hier lernte sie Wolfgang Hinkeldey kennen, einen Beleuchtungsmeister. Sie, die Flatterig-Emotionale mit der Löwenmähne, in deren Sätze mit Schweizer Akzent sich manchmal noch der amerikanische Satzbau einschlich. Er, der Ältere, der Rationale, der ihr Halt gab.

Der Beruf wurde ihr zur Berufung. Sie beherrschte die Kunst der Diplomatie ohne jede Heuchelei. Für alle und alles da, verbindlich, verlässlich. Einem Regisseur mischte sie von Stunde zu Stunde mehr Wasser in den Champagner, damit er die Probe bis zum Ende durchhielt. Mit einer Schauspielerin sprach sie Abend für Abend deren Solo-Vorstellung durch. Wie eine der Nymphen, die die Götter umgeben, ohne die jene nicht sein können.

Als der Regisseur Klaus Michael Grüber wenige Tage vor der Premiere von Kleists „Amphitryon“ alles hinschmiss und nach Paris abreiste, war es Ines, die die Aufführung rettete. Bei keinem der späteren Gastspiele durfte sie fehlen. Selbst um den Mond kümmerte sie sich, dass der während der Vorstellung ohne Ruckeln von einer Seite des Bühnenhimmels auf die andere wandern konnte, egal ob in der Wiener Volksoper, im Pariser Odeon oder im Jerusalemer Sherover-Theater.

Doch wenn der Druck am größten war, lief sie durch die Theatergänge und hatte das Gefühl, der Boden würde wanken. Es begann mit Schwindelanfällen und Sehstörungen. Fundierte Untersuchungen zögerte sie hinaus. Sie versuchte sich an eigenen Inszenierungen in Bremen, Celle, Stendal. Doch als die Beschwerden größer wurden, musste sie den Traum vom Theater aufgeben und wechselte in die Jugendkultur-Abteilung der Senatsverwaltung. Ein paar Jahre konnte sie hier noch arbeiten. Sie kämpfte um jeden Tag. Am Schluss musste sie die Schrift auf dem Bildschirm fünf Zentimeter groß stellen, um noch etwas zu entziffern. Dann die endgültige Diagnose MS. Die Erwerbsunfähigkeit. Und die Heirat mit Wolfgang. Sie fing an, Philosophie zu studieren. Er half ihr beim Schreiben der Arbeiten. Für die Zwischenprüfung lernte sie mit Diktiergerät.

Die Krankheit schritt schnell voran, alle drei Monate eine neue Situation. Erst die Augen, dann wollten die Beine nicht mehr, die Hände, später konnte sie nicht einmal mehr allein essen. Irgendwann dazwischen hatte sie aufgehört zu lachen.

Gegen den Rollstuhl wehrte sie sich, so lange sie konnte. „Wenn ich erst mal da drin sitze, was dann?“ Die Abhängigkeit war das Schlimmste. „Ich lebe auf nichts mehr hin“, sagte sie. Wichtig war nur noch das, was im Augenblick möglich war. Übers Sterben sprach sie nicht. Zwei Wochen vor ihrem Tod, besuchte sie mit Wolfgangs Hilfe noch eine Vorlesung über Wittgenstein. „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, hat der gesagt.

Sandra Stalinski

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