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Wirtschaft: Jeannette Kohlmann

(Geb. 1958)||Die Rechenwut der anderen hat sie nie verstanden.

Die Rechenwut der anderen hat sie nie verstanden. Sie brauchte nur zu zwinkern, schon versammelte sich ein ganzer Herrenclub zu ihren Füßen. „Jeannette“, sagt ihr Ex-Mann und entschuldigt sich vorab für den Kitsch, „war ein Männertraum: Exotik schien sie zu versprechen und Heimat zugleich.“

Das Traumgeschöpf ist in einer ziemlich nüchternen Wirklichkeit groß geworden. Jeannette war das Kind einer Deutschen und eines US-Soldaten afrikanisch-philippinischer Abstammung. Als sie drei Tage alt war, verschwand ihre Mutter nach Amerika und ließ nie wieder von sich hören. Vom Vater wusste Jeannette nicht einmal den Namen. Sie wuchs bei ihrer Großmutter und deren Söhnen auf, Ostpreußenflüchtlinge, die in Berlin-Marienfelde untergekommen waren. Die Jungs, ihre Onkel, hat Jeannette später wie eine Räuberbande beschrieben: ewig hungrig, durstig und gewalttätig. Die Großmutter aber kümmerte sich liebevoll um das Mädchen und lehrte sie viele Kalendersprüche, damit sie sich später einmal klüger benähme als die Bande ringsum.

Als sie fünfzehn war und die Großmutter fortzog aus Berlin, geriet Jeannette an einen Mann, der trank und sich auch sonst als ein Seelenverwandter ihrer Onkel entpuppte. Mit sechzehn Jahren bekam sie von ihm das erste, mit siebzehn das zweite Kind.

Doch lange konnte sie, die ein fröhliches, lebenshungriges Gemüt hatte, es nicht aushalten in dieser Tristesse. Sie erklärte sich für beurlaubt und buchte eine Butterfahrt nach Helgoland.

Der Reiseleiter namens Peter beschloss, das Fernweh der Schönen zu kurieren und nahm sie mit in ein neues Leben. Peter war nämlich aktiv bei den Jusos und im Nicaragua-Komitee, und wenn Jeannette in seinen Armen lag, verbot sie ihrer Zunge das Berlinern.

Wie Goldmarie in Frau Holles Ernteparadies fühlte sie sich, als Peter sie in der Öko-Bäckerei „Brotgarten“ einführte. Hier fragte sie keiner nach ihren Zeugnissen. Was überzeugte, waren ihre Arbeitsfreude und ihr großes Backtalent. Und so wurde Jeannette in das Kollektiv aufgenommen, in dem jeder Mitarbeiter auch Miteigentümer war.

Jeannette wusch die Bäckerwäsche, sortierte die Regale, putzte, arbeitete neue Leute ein, war Seelentrösterin, stieg nach ihren Backschichten in den Nachtbus, bereitete das Frühstück für die Söhne. Wenn jemand im Laden fehlte, wurde Jeannette angerufen, und wenn sie Zeit übrig hatte, kreierte sie neue Kuchen und Imbisse, die ebenso köstlich wie aufwendig waren. „Aber Jeannette, das rechnet sich doch nicht!“, wurde sie manchmal gemahnt.

Rechnen? Jeannette hat die Rechenwut anderer nie verstanden. Gab es etwas Schöneres, als gemeinsam gut essen zu gehen? Und was zerstört das Gemeinschaftsgefühl mehr, als nach Erhalt der Rechnung jedes Mineralwasser auseinanderzudividieren? Jeannette besaß lange kein Konto und auch keine Ordner für diesen Papierkram mit all den kleinlichen Kommastellen darauf. Wenn sie Geld hatte, dann gab sie es aus, am liebsten für Meeresfrüchte. Alle liebten Jeannettes Kochfeste, weil sie an nichts sparte, weder an Zutaten, noch an Sorgfalt, und es gab immer zu viel. Ihre Rechnung war ebenso simpel wie überzeugend: Wenn alle alles geben, werden auch alle viel bekommen. Dumm ist es nur, wenn es zu wenig Mitspieler gibt.

Sie hatte inzwischen einen Musiker geheiratet und mit ihm Zwillinge bekommen. Mutter von vier Jungen war sie jetzt und die Mutter des Brotgartens.

Manchmal fühlte sie sich ausgenutzt und überfordert, beruflich wie daheim. Dann zog sie sich zurück, tauchte ab in andere Welten, in Bücher, Musik oder in die Badewanne. Wenn jemand ihr dann diese Erholungszeiten nicht gönnen wollte, wurde sie wütend. Weinte, schimpfte, zerschmiss das Geschirr.

Sie trennte sich von ihrem Mann. Und ein anderer machte ihr das Leben zur Hölle. Er stellte ihr nach, terrorisierte sie mit wirren Briefen und Telefonanrufen, brach in ihre Wohnung ein. Jeannette zog um, ließ ihren Namen aus dem Telefonbuch löschen, schraubte ihr Klingelschild ab. Jahre hat es gedauert, bis der Mann in einer Psychiatrie untergebracht wurde.

Sie spürte das Schwinden ihrer Kräfte und wusste, dass es wieder an der Zeit war zu reisen. Vielleicht würde sie nach Spanien gehen, wo eine Freundin eine Bäckerei eröffnet hatte. Vielleicht würde sie sich eines Tages ein Segelschiff kaufen, und darauf Kochkurse geben. Sicher war, dass sie etwas Neues wagen wollte. Bald. Doch erst sollten die Zwillinge ihre Schulabschlüsse schaffen. Sie sollten unter besseren Bedingungen starten dürfen als sie.

Als der siebzehnjährige Sohn nach Hause kam, lag Jeannette auf dem Boden, die Beine wie zur Entspannung auf das Bett gelegt. Aus den Kopfhörern klang Musik. Ein Sekundentod. Sie starb an einer unerkannten Herzmuskelentzündung.

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