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Wirtschaft: Johanna Martha Baeckmann

Geb. 1917

Sie war Prinzessin, sie lenkte Straßenbahnen, sie war ein Rätsel. Johanna Pilz? Der alte Mann auf der Straße in Meusewitz runzelt die Stirn: „Ach, Pilzens Hanna meinen Sie!“ Doch, an die Sportwagenfahrerin erinnert er sich. Noch vor dem Krieg war das, und die Adoptiv tochter des Direktors war eine Hübsche mit dunklem, halblangem Haar. Etwas hochmütig war sie, fuhr viel zu schnell. Wenn sie denn mal da war, in der kleinen Braunkohlestadt in Thüringen, in der die Luft vom Rauch der Schlote schon vor dem Sonnenaufgang ergraute. Wenn sie im Reich ihres Adoptivvaters weilte, Gebieter über die Maschinen- und Gummifabrik und 500 Arbeiter, wenn sie mal nicht auf Reisen war, im Internat in St.Moritz oder in der Privatschule von Bad Honnef, dann roch es zumindest in ihrer Nähe gut. Sie badete in einer in den Boden eingelassenen Wanne aus Marmor, trug die schönsten Kleider, hatte alles, was man mit Geld kaufen kann. „Und, sagen Sie schon“, ruft der alte Mann, „was ist aus ihr geworden?“

Wo soll man anfangen? Fotos zeigen eine etwas exzentrische Person, mit signalfarbenen Kleidern und langen Ketten, die Finger voller Ringe. Eine, die gern auffiel, die ihre hochgeschwungenen Augenbrauen mit schwarzem Stift nachzog, das Haar toupierte, auf ihre schönen Beine stolz war, sich noch mit 40 in den Spagat warf, sekundenschnell. Geschichten erzählen von einer Großmutter, die ihre Enkel liebten: Weil sie kicherte wie ein Kind, Klingelstreiche machte, sich verkleidete, laut im Kino lachte und rief: „Mir doch egal, was die Leute denken“. Die älteste Tochter, die für Hanna nur „die Große“ war, klingt sehr erwachsen, wenn sie sagt: „Meine Mutter, das war vor allem eine große Sehnsucht.“

Die „Große“ ist aus Berlin nach Thüringen gereist, um Spuren von Hannas Leben zu sammeln: im Stadtarchiv, den leerstehenden Fabrikhallen, der Direktorenvilla, in der inzwischen der Kinderhort „Märchenland“ Quartier bezogen hat. Nie kam etwas zutage über die zwei Jahre nach Hannas Geburt, die Zeit, bevor sie die bereits älteren Eheleute Pilz aus Meusewitz „an Kindes statt“ annahmen, wie das damals hieß. Auch über ihre Adoptivmutter hat Hanna wenig gesprochen. Distanziert soll das Verhältnis bis zum Schluss geblieben sein, ohne Zärtlichkeit. Dafür waren Vater und Tochter vernarrt ineinander. Doch der Herr Direktor musste arbeiten, das Kind blieb viel allein, wurde mit Geschenken bestochen.

„Sie war“, sagt ihre Tochter, „durch ihre Erziehung ein materialistischer Mensch. Aber sie gab gern, sie war kreativ. Sie hat ihren Pelzmantel zerschnitten und für uns Mützen und Handschuhe genäht. Den Mädchen bastelte sie Puppenstuben, mit bunten Gardinen, Plüschsofa, elektrischer Anlage. Saß da mit dem halbfertigen Zierkissen, wenn wir von der Schule kamen, und hatte wieder nicht ans Mittagessen gedacht. Die Mütter unserer Mitschüler kannten das schon. Die standen in ihren weißen Schürzen am Herd und stellten einen Teller für uns mit auf den Tisch.“

Hanna konnte flirten, elektrische Leitungen verlegen, Charleston tanzen. Aber kochen und für andere sorgen? Sie gab sich Mühe. Hanna sagte und tat, was sie wollte, ohne Rücksicht. Naiv und willensstark – eine gefährliche Kombination: 1937 heiratete sie gegen den Willen der Eltern den Sohn eines Kölner Schokoladenfabrikanten. Noch vor der Hochzeit ließ das Ehepaar Pilz die Adoption rückgängig machen – verstieß die angenommene Tochter einfach per Vertragsauflösung. Auch als die Ehe in Köln innerhalb eines Jahres zerbrach und Hanna reumütig mit ihrem Sohn nach Thüringen zurückkehrte, blieb der Bruch bestehen. Bis 1942 der vergötterte Adoptivvater und mit ihm die letzte Hoffnung auf Versöhnung starb – und aus Pilzens Hanna endgültig wieder ein mittelloses Waisenkind wurde. Ein Fall ins Nichts, und durch nichts in ihrem bisherigen Leben vorbereitet.

Sie lenkt nun in Leipzig Straßenbahnen durch den Verkehr, haust irgendwo möbliert, gibt ihr zweites Kind, ein Mädchen, zur Adoption. Beim Pflichtdienst in der Munitionsfabrik lernt sie Wilhelm kennen. Hanna, aus den „besseren Verhältnissen“ und der einfache Arbeiter, sie passen nicht zusammen, und sie heiraten doch. Und bekommen in den Jahren 1944 bis 1957 acht Kinder, zwei davon sterben früh. Bei jeder Schwangerschaft blüht Hanna auf, träumt vom Ende der großen Verlorenheit. Aber das Geld reicht vorn und hinten nicht, Hanna fährt über Land, um Lebensmittel zu organisieren, sie fliehen nach West-Berlin – und lassen sich zweimal scheiden.

Die Tochter sagt: „Meine Mutter wirkte sehr dominant. Aber sie war schwach und für uns Kinder ein Rätsel.“ Nach der Scheidung überlässt Hanna die Kinder öfter sich selbst. Die „Große“, beschließt sie, die schafft das schon. Sie verdingt sich inzwischen als Zimmermädchen an der See und in Bayern, hält weiter nach dem schönen, reichen Retter Ausschau. Sie ist doch schon einmal wie durch ein Wunder „Prinzessin“ geworden, damals in Meusewitz. „Sie hat mich maßlos überfordert“, sagt die Tochter, „aber sie hat es eben einfach nicht besser gewusst.“

Es geschah vor vielen Jahren. Hannas Kinder sind längst erwachsen, haben eigene Familien, Berufe. Keines von ihnen ist ganz untergegangen in der dunklen Zeit, fast ein Wunder. Kinder und Enkelkinder saßen um ihr Bett, als sie in diesem Frühjahr starb.

Was aus ihr geworden ist? „Sie blieb Pilzens Hanna, bis zum Schluss“, sagt die „Große“, die heute bei einer Kinderschutzeinrichtung arbeitet. „Ein Kind. Und sie glaubte fest, dass wir es einmal besser machen werden als sie.“ Ihre Diplomarbeit hat die Tochter zum Thema „Adoption“ verfasst. „Unsere Mutter“, sagt sie, „konnte eine Hexe sein. Aber wir Kinder hätten alles für sie getan.“

Kirsten Wenzel

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