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Wirtschaft: Julian Kleist

(Geb. 1981)||„Ich möchte der König sein, aber ich kann nicht der König sein.“

„Ich möchte der König sein, aber ich kann nicht der König sein.“ Buchstabengehirne können so was nicht. Dong-dong-dong. Klingt so eine Glocke? Eine richtige dunkle Kirchenglocke, etwa die in der Nikolaikirche von Pritzwalk klingt so, wie Julian geklungen hat, wenn er eine Glocke imitierte. Dazu stellte er sich hin, streckte die Arme gen Himmel, öffnete die Schallschleusen seiner Kehle, fing an zu vibrieren und frohglockte.

Eine, die früher nie ein Wort gesprochen hatte, rief einen Lehrer aus der Schule an, die sie zusammen mit Julian besucht hatte. „Juli ist tot“, sagte sie und legte auf. Julian war ihr Freund gewesen, auch wenn das niemandem aufgefallen war. Er hatte sie zum Sprechen gebracht.

Für einen Autisten war Julian erstaunlich kommunikativ. Er ging auf Fremde zu, gewöhnte sich an Massenveranstaltungen. Sogar in die Schmeling-Halle zum Basketball ging er einmal und war begeistert von der Klangkulisse. Jeden Tag telefonierte er mit seinem Vater, sagte, was es zu essen gegeben hatte, welche Betreuerin im Dienst war und wie das Wetter wird. Julian interessierte sich für Ereignisse am Himmel. Er wusste genau, wann das nächste Mal Vollmond ist.

Er redete auch gerne, wenn es nicht so passte. Die Tagesschau und die Abendschau fand er toll, weil da Sätze vorkamen, die zwingend auf ein bestimmtes Verb zueilten. „Die Koalition hat sich im Streit um die Gesundheitsreform auf einen Kompromiss geeinigt.“ Julian sprach das „geeinigt“ mit und freute sich riesig, den Sprecher zu synchronisieren. Nachrichtensprecher wäre er gern geworden.

Wenn Lieder von Xavier Naidoo, Herbert Grönemeyer, Elton John oder Phil Collins im Radio liefen, sang er laut mit, jede Zeile. Er kannte sie alle auswendig. Wenn ein Laster das Auto überholte, in dem er saß, überholte er laut mit. Tädömm, tädömm, tädömm, das sind die Betonplattenfugen auf der Stadtautobahn zwischen Wilmersdorf und Tempelhof. Drrrit, drrrit, drrritt, das ist der Rillenbelag vorm Autobahnkreuz Wittstock. Julian war ein unermüdlicher, präzise arbeitender Klangverstärker und Geräuschereproduzent.

Erzählen konnte Julian gut, weil er sich an fast alles erinnerte. Manches dramatisierte er. „Stell dir vor, da war ich auf dem Spielplatz, bin hingefallen, es tat höllisch weh. Blutüberströmt bin ich nach Hause gerannt ...“ – „War das nicht nur ein kleiner Kratzer?“ – „Na jaaaa“.

Er suchte die Bühne, kommandierte seine kleinen Geschwister herum, versuchte es zumindest, erkannte zuweilen: „Ich möchte der König sein, aber ich kann nicht der König sein.“

Puzzeln konnte Julian gut, wie viele Autisten. Der gemeine Puzzler arbeitet vom Rand aus zur Mitte und baut zuletzt den Himmel zusammen. Der autistische Puzzler nimmt irgendein Teil, legt es an die richtige Stelle und findet ein zweites Teil, das dazupasst. Manche Autisten puzzeln auf der monochromen Rückseite, damit es nicht zu langweilig wird. Es ist die totale Konzentration, der „scharfe Blick“, sagen Kenner, aber eigentlich weiß niemand genau, wie es funktioniert. Julian war ein Dreivierteljahr alt, als er sein erstes Steckpuzzle „für Kinder ab zwei“ bekam. Er krabbelte zu den Teilen und presste sie ohne Fehlversuche in die richtige Aussparung.

Zwei Jahre später in einem Kaufhaus, seine Mutter war mit einer Verkäuferin ins Gespräch vertieft, ertönte aus dem Buggy die Mahnung: „Es ist zehn nach halb elf. Wir müssen nach Hause, Mama.“

Uhrmacher gehörte ebenfalls zu Julians Berufswünschen. Tik-tik-tik. Ein langer dünner Stab, der das monströse Chaos des Weltgeschehens in kleine, gleichförmige Zeiträume zerhackt. Wunderbar beruhigend.

Die Ziffern auf der Uhr kannte er. Auf der Tafel blieben sie für ihn unerreichbar. Und diese dürren Figuren, sogenannte Buchstaben, aneinandergereiht, immer wieder andere, mit Lücken dazwischen. Muss man sich für so was interessieren? Julian bevorzugte Wörter zum Hören. Seine Augen waren mit anderen Dingen beschäftigt.

Gutes Essen war wichtig. Lasagne oder Toastbrot mit Majo oder Milka-Vollmilchschokolade. Croissants am Sonntag vom Bäcker zwei Straßen weiter, ein Eckpfeiler seiner Existenz. Als die Croissants einmal ausgegangen waren, einfach so, ohne Vorwarnung, erlitt Julian im Bäckerladen einen Wutanfall. „Das ist doch hier ein Scheißladen! Hier kauf ich nie wieder!“ Er brauchte einige Tage, um über den Schock hinwegzukommen. Dinge, an die sich Autisten gewöhnen, dürfen nicht einfach so ausgehen. Das hätte die Bäckerin wissen müssen.

Manchmal stand Julian mit seiner Mutter auf dem U-Bahnhof, der Zug fuhr ein, aber Julian schüttelte nur mit dem Kopf. „Der hat die falschen Lichter“. Dann mussten sie solange warten, bis einer mit den richtigen Scheinwerfern einfuhr. Natürlich ahmte er den Dreiklang des Türschließsignals perfekt nach.

Mit 19 zog Julian zu Hause aus, in eine Wohngruppe des Vereins „Autismus Deutschland“. Er war jetzt erwachsen, ging jeden Morgen zur Arbeit, kaufte ein und trieb seine Späße mit den Betreuern. Er liebte Partys, tanzte wie verrückt. Nur das Diskolicht machte ihm zu schaffen. Diese Lichtblitze vertrug er nicht. Julian war Epileptiker.

Ein autistisches Kind zu lieben, fällt nicht schwer. Aber der Verzicht auf eine Erwiderung nagt über die Jahre an der Substanz. Keine Küsse, kein Knuddeln, selten Umarmungen. Die Oma begrüßte Julian mit einer Frage: „Gehst du bald wieder?“

Auf das Praktikum in der Kantine der Behindertenwerkstatt freute er sich. Das Putzen und vor allem das Bügeln hatte er satt. Mit seinem Vater wollte er an die Ostsee fahren, an jenem Tag, an dessen Morgen er tot in seinem Bett lag. In der Nacht hatte ihn ein Krampf gepackt und nicht mehr losgelassen.

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