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Wirtschaft: Karla Wolff

Geb. 1926

Von Anne Jelena Schulte

Immer im Mai erinnerte sie sich an das Mädchen, das kurze Haare haben wollte. Wenn Karla Wolff die alten Fotos betrachtete, erinnerte sie sich an die Brandenburger Landschaft, in der sie so wild und fern vom strengen Blick der Mutter gespielt hatte. Ihre dicken, roten Zöpfe hat sie damals nicht gemocht. Kurz wollte sie die Haare tragen.

Karla war klug und wurde auf Anraten des Volksschullehrers als einziges Mädchen des Dorfes auf die Handelsschule geschickt. Ihre Freundinnen arbeiteten auf dem Feld, sie wurde Sekretärin in der großen Schuhfabrik in Storkow. In den dunklen Kriegsnächten konnte sie hier heimlich Schuhe für die eigene Familie nähen.

Mit ihrer lustigen und freundlichen Art hatte sie dem jungen Lehrer Alfred Wolff schon länger seine Landaufenthalte versüßt. Als 1947 seine Mutter starb, da machte er Karla gleich den Heiratsantrag. Die Notwendigkeit sah Karla gerne ein. Sie wurde schwanger, und ihre Mutter war froh, das sommersprossige Mädchen in festen Händen zu wissen.

Vier Jahre später, inzwischen regierte die Sozialistische Einheitspartei, sah Alfred im Kino einen Propagandafilm, wollte noch vor Ende den Saal verlassen – und durfte nicht. Ein Land, in dem man Propaganda-Aufführungen nicht verlassen darf, sollte man ganz und gar verlassen, fand er, und so begab sich das junge Ehepaar kurz darauf nach West-Berlin. Sie fuhren getrennt, um nicht als Republikflüchtige erkannt zu werden, und trafen sich in Zehlendorf wieder. Dort hatte Alfred ein Haus geerbt. In den nächsten Jahren träumte Karla oft von Volkspolizisten, die in der S-Bahn die Papiere kontrollieren, erwachte mit klopfendem Herzen, hörte die Frösche von der Krummen Lanke quaken und schlief wieder ein.

Das Haus war voll von wohnungslosen Fremden, Alfred büffelte an der Hochschule, um Sonderschulpädagoge zu werden, und die beiden Kinder hatten immer Hunger. In diesen ersten Jahren war Karla fürs Geldverdienen zuständig: Um 4 Uhr morgens verließ sie das Haus, trug den Tagesspiegel aus, kam müde nach Hause, machte Frühstück, zog die Kinder an, fragte Alfred, was er sich zu essen wünsche, kochte, nähte, putzte, tröstete.

Doch dann bestand Alfred seine Prüfungen, und die Wirtschaft begann, ihre Wunder zu entfalten: Das Haus gehörte endlich ihnen allein, vor der Tür stand bald ein eigenes Auto, und in der Küche duftete es nach Hefeklößen. Die Nähmaschine summte, Karla nähte den Barbie-Puppen die gleiche Kleidung wie ihrer liebevoll umhegten dritten Tochter.

Da Alfred die große Gesellschaft scheute, lebten sie still und zurückgezogen. Wenn ein Enkelkind Geburtstag hatte, freute Karla sich auf die Feier und auf die große Fahrt in einen anderen Bezirk. Wurden die Kinder oder Enkel auf dem Vorgartenweg gesichtet, eilte sie zur Tür, steckte ihre Hand durch den gusseisernen Briefschlitz und winkte.

Wenn der Mai kam, schaute sie aus dem Fenster und erinnerte sich an die leuchtend gelben Rapsfelder in der Mark Brandenburg, an die Spiele mit dem Bruder. Alfred aber wollte die DDR nicht besuchen. Als ihr Sohn alt genug war, besorgte der für sich und seine Mutter ein Visum und fuhr mit ihr zu den nahen fernen Orten der Vergangenheit. In jedem Mai suchte sie nun die Gelegenheit, sich an den Rapsfeldern zu berauschen und sich an das kleine Mädchen zu erinnern, das von einer Kurzhaarfrisur träumte.

Sie wurde alt, die Osteoporose ließ die Knochen brüchig werden. Und so musste Karla umsorgt und nach ihren Wünschen befragt werden. Ihre Schmerzen waren groß – aber die Pflege vermochte sie dennoch zu genießen.

Ein Mensch wie Karla verlässt sein Haus nicht einfach so. Manchmal sieht Alfred sie nachts in seinem Zimmer. Dann steht sie am Fenster und schaut in den Garten hinaus.

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