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Hält offiziell an höherer Defizitquote fest: Christian Lindner, Bundesminister der Finanzen.

© dpa/Kay Nietfeld

Lindner rechnet mit höherem Defizit: Rechtlich nötig – oder politisch?

Der Finanzminister kalkuliert trotz besserer Wirtschaftslage und geringerer Energiepreise mit relativ vielen Schulden. Ein Balanceakt zwischen Projektion, Prognose und Ambition.

Wie hoch sich der Bund in diesem Jahr verschulden muss, ist eine offene Frage. Es hängt von einigen Umständen ab. Allen voran der Wirtschaftslage. Dann von den Energiepreisen. Und schließlich auch von politischen Vereinbarungen in der Ampel-Koalition.

Die Wirtschaftslage bessert sich. Das dürfte bis zum Jahresende etwas Entspannung bei den Steuereinnahmen bringen. Die Energiepreise sind lange nicht mehr so hoch, wie noch vor dem Winter zu befürchten war.

Das bedeutet, dass weniger Kredite aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) genutzt werden müssen, über den die Energiepreisbremsen und andere Stützungsmaßnahmen der Ampel finanziert werden. Und was zusätzliche Vereinbarungen der Koalition betrifft, tritt Finanzminister Christian Lindner (FDP) bekanntlich auf die Bremse.

Veraltete Zahl?

Dennoch hält das Finanzministerium für das laufende Jahr vorerst an einer gesamtstaatlichen Defizitquote fest, die auf den wirtschaftlichen Annahmen vom Januar beruht. Damals hatte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) das Wachstum der deutschen Wirtschaftsleistung in diesem Jahr auf 0,2 Prozent veranschlagt. Noch war unklar, wie sich die Energiepreise entwickeln würden.

In der Frühjahrsprognose in der vorigen Woche erhöhte Habeck die regierungsamtliche Prognose auf 0,4 Prozent. Da war schon klar, dass aus dem WSF erheblich weniger Mittel gebraucht würden, um Energiepreise zu deckeln.

Deswegen vor allem hatten unlängst sowohl die Wirtschaftsweisen als auch die Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrem Gemeinschaftsgutachten ihre Schätzung der Defizitquote deutlich zurückgenommen. Die Institute nehmen an, dass die Höhe der Verschuldung in Relation zum Bruttoinlandsprodukt nur noch bei 2,2 Prozent liegen wird. Die Wirtschaftsweisen reduzierten ihre Erwartung sogar auf 1,6 Prozent.

Kritik vom Expertenrat

Doch das Bundesfinanzministerium legte am Dienstag dem Stabilitätsrat (dem Bund-Länder-Gremium zur Koordinierung der staatlichen Schuldenpolitik) die seit Januar geltende Zahl von 4,25 Prozent vor.

Das wiederum stieß auf Kritik des unabhängigen Beirats beim Stabilitätsrat, einer Runde von Experten unter Leitung des Erlanger Ökonomen Thiess Büttner, der auch der Wirtschaftsweise Achim Truger und der frühere sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt angehören. In ihrer Stellungnahme zur Sitzung des Stabilitätsrats unter Lindners Vorsitz am Dienstag schreiben sie, dass eine solche Defizitquote in diesem Jahr aus heutiger Sicht „wenig plausibel“ sei.

Verbindlicher Wirtschaftsplan

Doch warum kalkuliert Lindner mit diesem Anstieg? Fürchtet er eine zu frühe Korrektur? Lindner selbst sagte am Dienstag, die „Projektion“ von 4,25 Prozent sei rechtlich geboten. Es gebe für den WSF (und dieser Nebenetat ist ausschlaggebend für die Höhe des Defizits) einen verbindlichen Wirtschaftsplan, nach dem sich die Zahl richte. Insgesamt könnten über den WSF 200 Milliarden Euro an neuen Krediten mobilisiert werden.

Für die Energiepreisbremsen und andere Maßnahmen ist deutlich weniger nötig. Daher liegt Lindners „Prognose“, worunter der Finanzminister die wahrscheinliche Entwicklung versteht, niedriger. Eine konkrete Zahl nannte er allerdings nicht. Seine „Ambition“, so ließ Lindner sich verstehen, ist ein noch kleineres Defizit.

Aber offizielle Regierungslinie bleiben damit die 4,25 Prozent. Kommt es also doch noch dazu, dass sich die Koalition auf mehr kreditfinanzierte Ausgaben in diesem Jahr verständigt – etwa für Industriestrom, ebenfalls über den WSF? In der Wirtschaft gibt es dafür durchaus gewichtige Stimmen. Der Finanzminister will davon jedoch nichts wissen. Eine Umwidmung der Mittel im WSF wäre für ihn „ein Bruch der Verfassung“.

Der unabhängige Beirat jedenfalls kritisiert die Nutzung solcher Nebenhaushalte zur Finanzierung staatlicher Aufgaben. Dazu gehört neben dem WSF auch das Sondervermögen Bundeswehr oder der Klima- und Transformationsfonds. Zwar werde durch diese Finanzierung auf Nebenwegen formal die Schuldenregelung im Grundgesetz noch eingehalten, doch würden dadurch „gewichtige gesamtstaatliche Defizite“ angehäuft. Das gefährde, so das Urteil, die Einhaltung der europäischen Defizitvorgaben. Diese berücksichtigt die Kreditaufnahme in Nebenetats.

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