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Wirtschaft: Lipobay und die Folgen: Interview: "Dieses Spektakel ist wirklich unangemessen"

Bruno Müller-Oerlinghausen ist Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Herr Müller-Oerlinghausen, Pfizers Potenzmittel Viagra soll für über 900 Todesfälle verantwortlich sein.

Bruno Müller-Oerlinghausen ist Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft.

Herr Müller-Oerlinghausen, Pfizers Potenzmittel Viagra soll für über 900 Todesfälle verantwortlich sein. Warum ist Viagra noch auf dem Markt, Bayers Cholesterinsenker Lipobay mit 52 Todesfällen aber nicht?

Dieses Spektakel ist wirklich unangemessen. Es gibt verschiedene Spekulationen, warum es entfesselt wurde. Ich frage mich, ob es ein Zufall ist, dass hier der gleiche Anwalt nach vorne geht, der schon in Sachen Zwangsarbeiterentschädigung gegen deutsche Unternehmen tätig geworden ist. Andere Medikamente sind ja auch schon zurückgerufen worden, teilweise wegen weniger oder einer vergleichbaren Zahl von Todesfällen. So aufregend ist das nicht.

Warum regt sich kaum jemand über die Nebenwirkungen von Viagra auf?

Es gibt zwei Erklärungen: eine ist die starke Stellung von Pfizer auf dem internationalen Markt. Die zweite ist, dass es zu Viagra zurzeit keine echte Alternative gibt. Das könnte sich aber schnell ändern. Auch Bayern entwickelt ein Potenzmittel. Wenn sich herausstellen sollte, dass das Produkt genau so wirksam ist und deutlich weniger Gefahren mit sich bringt, dann müssen wir über Viagra noch einmal ernsthaft nachdenken.

Heißt das, dass man die Zulassung bei einem ganz neuen Medikament weniger streng handhaben sollte als bei einem nachgebauten Medikament wie Lipobay?

Nur dann, wenn es sich um eine so schwere Krankheit handelt wie Multiple Sklerose, Aids oder Alzheimer, für die wir heute kaum Behandlungsmöglichkeiten haben. Wenn ein neues Mittel auf den Markt kommt, wie Interferon, wird man es einem Patienten nicht verweigern können - obwohl Interferon schwere Nebenwirkungen hat. Einer solchen Zulassung wird man positiver gegenüber stehen als bei einem Präparat, das gegen eher unbedeutende Krankheiten eingesetzt werden soll und erhebliche Nebenwirkungen hat. Das Verhältnis von Nutzen und Risiko muss stimmen.

Können die Zulassungsbehörden Nebenwirkungen durch schärfere Kontrollen ausschließen?

Nein. Wenn eine Nebenwirkung nur bei einem von 1000 Behandelten auftritt, dann müsste man das Medikament wenigstens an 10 000 bis 20 000 Patienten testen, um nachzuweisen, dass diese Nebenwirkung häufiger oder seltener auftritt als bei einem Konkurrenzpräparat.

Die forschende Arzneimittel-Industrie plädiert für ein Frühwarnsystem, mit der Nebenwirkungen nach der Zulassung europaweit erfasst werden. Stimmen Sie zu?

Es gibt zwei verschiedene Philosophien der Zulassung. Die eine ist, Substanzen so schnell wie möglich auf den Markt zu lassen und danach auftretende Nebenwirkungen sehr sorgfältig zu registrieren. Das britische Erfassungssystem gilt vielen als vorbildlich. Die andere Philosophie ist, vor der Medikamenten-Zulassung alles zu tun, um möglichst viele Risiken zu erkennen. Das verzögert die Zulassung. Was besser ist, ist Gegenstand anhaltender politischer Diskussionen.

Die EU-Kommission drängt darauf, die Zulassung neuer Medikamente zu beschleunigen, um damit die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Arzneimittelindustrie zu stärken. Ist das nicht gefährlich?

Eines ist klar: Wenn man Medikamente sehr schnell zulässt, muss man anschließend die Nebenwirkungen sehr sorgfältig kontrollieren. Dazu brauchen wir kompetente Behörden und eine Ärzteschaft, die mitzieht. Auch das Meldesystem ist in den meisten europäischen Ländern - einschließlich Deutschland - verbesserungsfähig.

Sind Sie zuversichtlich, dass die europäische Zusammenarbeit nach dem Lipobay-Schock besser funktionieren wird?

Nein, wir haben echte Sorgen. Durch die europäische Zusammenführung von Daten sollte eigentlich eine schnellere Information über Nebenwirkungen erreicht werden. Das Gegenteil ist bislang der Fall. Hier muss sich etwas ändern, die EU-Zulassungsbehörde muss transparenter werden. Sie muss endlich begreifen, dass sie ihre Akten- und Panzerschränke nicht nur bei Anfragen von Behörden, sondern auch von Ärzten und Verbraucherverbänden zu öffnen hat.

Wovor hat die EU-Zulassungsbehörde Angst?

Die EU-Zulassungsbehörde ist im wirtschaftspolitischen Raum angesiedelt, nicht direkt bei der Gesundheitspolitik. Für mich ist das kein Zufall. Mehr Transparenz werden wir vermutlich nur mit einer eindeutig dem Gesundheitsbereich zugeordneten Behörde erreichen.

Ist auszuschließen, dass es zu weiteren Fällen wie Lipobay kommt?

Selbstverständlich nicht. Bei der derzeitigen aggressiven Werbung für Arzneimittel, der forcierten Zulassung und der oft sofort einsetzenden weltweiten Vermarktung nach der Zulassung müssen wir damit rechnen, dass solche Fälle eher zunehmen werden.

Herr Müller-Oerlinghausen[Pfizers Potenzmitt]

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