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Wirtschaft: Mächtig bescheiden

Siemens-Chef von Pierer ist der einflussreichste deutsche Manager – ein Mann ohne Skandale und Allüren

Der Uno-Sicherheitsrat kam im April zusammen, um über ein weltbewegendes Thema zu sprechen: Wie sich Konflikte wie der Irak-Krieg künftig vermeiden lassen. Doch es war nicht das Thema, sondern der Referent, der diese Sitzung bemerkenswert machte. Kein Regierungsvertreter oder Diplomat sprach im obersten Uno-Gremium, sondern der Vorstandschef des Siemens-Konzerns, Heinrich von Pierer. Sein Auftritt vor dem Uno-Sicherheitsrat – der erste eines deutschen Managers überhaupt – zeigt einmal mehr, welchen Einfluss von Pierer hat: Er hat es geschafft, zum mächtigsten Vertreter der deutschen Wirtschaft zu werden. Egal, ob es um Wiederaufbau-Verträge im Irak, die Schaffung europäischer Schwergewichte oder den Transfer moderner Technologien nach China geht – meist mischt von Pierer ganz vorne mit.

„Allein kann die Wirtschaft die Welt nicht verändern“, sagte er vor dem Si- cherheitsrat. „Doch zusammen mit der Politik kann sie einen wichtigen Beitrag im Kampf gegen Gewalt, Anarchie und Terrorismus leisten und eine Lanze für Kultur, Freiheit und Wohlstand brechen.“

Das wichtigste Anliegen des Siemens-Chefs ist und bleibt allerdings Deutschland. Die größte Volkswirtschaft Europas leidet unter hoher Arbeitslosigkeit und anhaltender Konjunkturschwäche. Und so versucht der 63-Jährige mit jovialem Charme und Realpolitik seine Landsleute und die Politiker zu überzeugen, das üppige Wohlfahrtssystem gründlich zu ändern. Von Pierer warnte kürzlich in einem Interview, „dass wir unsere hohen Kosten, unsere hohen Umweltstandards, unsere hohen sozialen Standards im internationalen Wettbewerb nicht mehr rechtfertigen können, wenn wir nicht irgendetwas zu bieten haben, das wir besser machen als andere“.

Er könne eben direkt sein, ohne anmaßend zu klingen, sagt Mark Wössner, früherer Bertelsmann-Chef und heute Chairman der deutschen Abteilung der US- Bank Citigroup, über von Pierer: „Er ist niemals laut, aber sagt immer seine Meinung.“ Der Siemens-Chef verkehrt in allerhöchsten Politik- und Wirtschaftskreisen. Obwohl CDU-Mitglied, ist er ein enger Berater von Gerhard Schröder und ein großer Unterstützer seiner Innovationsoffensive. Die beiden treffen sich auch privat, oft auf dem Tennisplatz.

In von Pierer hat die deutsche Wirtschaft einen inoffiziellen Sprecher, der schon seit Jahrzehnten als Brücke zwischen Regierung und Industrie fungiert. Früher war es so, dass die Chefs der deutschen Banken und Versicherer nur wirtschaftliche Interessen vertraten. Durch Überkreuzbeteiligungen kontrollierten sie weite Teile der deutschen Industrie. Doch mit der Auflösung der Deutschland AG verlor die Finanzbranche an Einfluss. Und auch ihre Manager haben an Ansehen eingebüßt, wie etwa die Deutschen Bank-Chefs Rolf Breuer und Josef Ackermann oder der Allianz-Aufsichtsratschef Henning Schulte-Noelle. Vor allem, weil ihre Unternehmensstrategien nicht aufgegangen sind. Das schaffte Raum für Leute wie Heinrich von Pierer.

Der Sohn eines Berufsoffiziers aus dem ländlichen Bayern hat sich mit seiner bescheidenen und diplomatischen Art soviel Anerkennung erworben wie kaum ein anderer Vertreter der Wirtschaftselite. Dennoch hätte bis vor kurzem wohl kaum jemand gedacht, dass ausgerechnet Heinrich von Pierer der wichtigste Mann der deutschen Wirtschaft werden würde. In den 90er Jahren war der Siemens-Chef umstritten. Sein Konzern war für viele Anleger und Analysten der Inbegriff von Bedenkenträgerei und Widerstand gegen die notwendige Sanierung der schwächelnden Deutschland AG. Weil er an Siemens traditioneller Konglomeratsstruktur festhielt und eine „Megafusion“ mit einem anderen Unternehmen ablehnte, musste von Pierer viel Kritik einstecken. Der Kurs der SiemensAktie stieg daher auch nie so hoch wie etwa die Titel der Deutschen Telekom oder anderer Analysten-Lieblinge in den Boomzeiten der 90er Jahre. Dafür legte Siemens unter von Pierer eine solide finanzielle Performance hin. Der SiemensChef kann mit sich zufrieden sein, wenn er Anfang 2005 den Vorstand verlässt und an die Spitze des Aufsichtsrats wechselt. Auch wenn von Pierer künftig nicht mehr den Konzern leitet, wird sein Einfluss wohl nicht schwinden – zumindest nicht, solange Deutschland um den wirtschaftlichen Aufschwung kämpft.

Von Pierer wuchs in Erlangen auf, wo er noch immer tief verwurzelt ist. Er studierte Rechtswissenschaft und Volkswirtschaft, arbeitete in der Rechtsabteilung und der Siemens-Kraftwerkssparte, bevor er 1992 Vorstandschef wurde. Auch wenn ihm vorgeworfen wird, Siemens nicht wirklich umgekrempelt zu haben, so ist es ihm doch gelungen, aus dem von Staatsaufträgen abhängigen, bürokratischen Apparat einen der erfolgreichsten deutschen Konzerne zu machen. „Siemens ist der Beweis, dass sich die Deutschland AG reformieren lässt“, schrieb die Wochenzeitung „Zeit“ kürzlich.

Wie mächtig von Pierer ist, wurde auch bei den Verhandlungen mit der IG Metall deutlich. Siemens hatte gedroht, zwei Werke nach Ungarn zu verlagern, falls die Arbeiter nicht einer 40-StundenWoche ohne Lohnausgleich zustimmten. Das rüttelte an den Grundfesten dessen, was für viele Deutsche die größte Errungenschaft der Arbeiterbewegung ist: die 35-Stunden-Woche. „Wir brauchen zwei Dinge in Deutschland: Innovation und wettbewerbsfähige Arbeitsbedingungen“, wurde von Pierer nicht müde den Arbeitern zu erklären. Und am Ende stimmten die Gewerkschaften seinen Plänen zu. Eine Vereinbarung, die wohl die Lohnverhandlungen in der gesamten deutschen Industrie beeinflussen wird.

Matthew Karnitschnig

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