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Wirtschaft: Nachteinsatz

Wer arbeitet, wenn andere schlafen, verschiebt seinen Tag-Nacht-Rhythmus. Das kann zu chronischen Krankheiten führen. Was Experten raten

Friedrichshain, Freitagabend. Während draußen die Basssüchtigen in die Clubs strömen, sitzt Uwe Falk bei einem Kaffee in der Cafeteria des Vivantes-Klinikums. Nichts los. Die Eingangshalle liegt im Halbdunkel. Vereinzelt taucht eine Menschenseele auf und verschwindet wieder. Der Krankenpfleger hat noch ein paar Minuten, bis sein Dienst um 22 Uhr los geht – und es um ihn herum ständig piepen wird. Die Bässe der Clubs sind weit weg von der Intensivstation im zweiten Stock. Den Sound seiner Nacht geben die medizinischen Überwachungsgeräte vor.

Falk streift sich die weiße Hose über, zieht den Kittel und die Turnschuhe an und befestigt das Namensschild an der Brusttasche. „Adaptieren“ nennt er das.

Der Geruch nach Desinfektionsmittel auf der Station ist ihm sehr vertraut. Seit 1995 ist er hier Pfleger. 14 Betten hat die Station, in dieser Nacht sind sie alle belegt. Falk wird bis sechs Uhr morgens arbeiten – so wie auch in den drei kommenden Nächten. „Mein Job ist nicht nur das Beobachten“, sagt er. „Immer kann ja auch etwas passieren.“ Dieser permanente Druck sei der beste Wachhalter.

Uwe Falk ist einer von rund sechs Millionen Erwerbstätigen in Deutschland, die auch oder vor allem nachts arbeiten. Die meisten von ihnen, knapp 1,4 Millionen Beschäftigte, sind im Bergbau oder im verarbeitenden Gewerbe tätig, 1,2 Millionen in öffentlichen oder privaten Dienstleistungen. So wie Falk.

Laut Arbeitsrecht ist der Krankenpfleger ein „Nachtarbeitnehmer“. Das sind diejenigen, die aufgrund ihrer Arbeitszeitgestaltung normalerweise Nachtarbeit in Wechselschicht leisten oder die an mindestens 48 Tagen im Kalenderjahr nachts arbeiten. „Nachtarbeit ist jede Arbeit, die mehr als zwei Stunden der Nachtzeit umfasst“, erklärt der Arbeitsrechtler der Berliner Kanzlei Gleiss Lutz, Stefan Lingemann. Als Nachtzeit gilt in der Regel die Zeit von 23 Uhr bis sechs Uhr.

Jede Nachtschicht bedeutet Arbeiten gegen die innere Uhr. „Kurze Schichtwechsel oder viele Nachtschichten hintereinander sind heftig“, sagt Ingo Fietze, Schlafforscher an der Berliner Charité. Durch den veränderten Rhythmus könne es zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen kommen wie Schlafstörungen oder Herz-Kreislauf-Problemen. Krankenkassen empfehlen dem Vorzubeugen durch eine ausgewogene Ernährung, wenig Alkohol und viel Bewegung.

Doch längst nicht immer hat Nachtarbeit gesundheitliche Folgen. Jeder reagiere unterschiedlich auf die speziellen Arbeitsbedingungen. „Die meisten bleiben gesund“, beruhigt Fietze. Seit ein paar Jahren plädiert die Wissenschaft für einen „gesunden Schichtdienstplan“. Das heißt, dass jeder Nachtarbeiter seinen eigenen Dienstplan erstellt – im Einklang beispielsweise mit seinen sozialen Lebensumständen und körperlichen Bedürfnissen. „Aus medizinischer Sicht wäre das am gesündesten“, sagt Fietze. Praktisch umsetzbar ist das allerdings in der Regeln nicht. Auch nicht im Friedrichshainer Krankenhaus. Zwar kann Falk Wünsche äußern – den Dienstplan macht jedoch ein anderer.

Nicht nur auf die Gesundheit müssen Nachtarbeiter achten, sondern auch auf ihre sozialen Beziehungen. Falk hat viele Freunde, die nachts arbeiten. Man hat füreinander Verständnis. Das sei wichtig. Auch die Familie nimmt Rücksicht.

Früher konnte sich der Krankenpfleger nach dem Dienst entspannt schlafen legen. Heute geht das nicht mehr so einfach, er hat zwei Kinder. Wenn seine Frau arbeitet, bringt er sie in den Kindergarten. Erst dann kann er sich hinlegen. Und auch abends ist er als Vater gefragt. Meist bleibt nur wenig Zeit für eine „Siesta“, wie er den kurzen Schlaf vor Arbeitsbeginn nennt.

Falk versucht, sich höchstens für fünf Nachtdienste im Monat eintragen zu lassen. Das ist das Minimum an Nächten, für einen funktionierenden Pflegebetrieb. Es gebe Kollegen, denen es leichter falle, nachts zu arbeiten. „Für mich ist jede Nacht eine Nacht zu viel“, sagt er. Die ersten beiden seien für ihn am schlimmsten. „Da hat mein Körper Probleme, sich umzustellen.“ Die folgenden seien entspannter. Mehr als fünf am Stück schafft er trotzdem nicht. „Da liegt meine persönliche Schmerzgrenze.“

Barbara Griefahn vom Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund beschäftigt sich seit 1998 mit der Erforschung der Nachtarbeit. Die Probleme, die Falk schildert, kennt sie gut. Eine der Ursachen dafür ist das Hormon Melatonin, das den Tag-Nacht-Rhythmus des Körpers steuert. Bei Dunkelheit wird es ausgeschüttet, löst die Tiefschlafphase aus. Bei Licht wird die Ausschüttung wieder gestoppt. Ist man in der Nacht wach, gerät dieser Rhythmus durcheinander. „Die Zeit, die der Körper braucht, um sich der Nachtarbeit anzupassen, dauert lang“, weiß Griefahn. Mit einer Stunde pro Tag könne man rechnen. Bei Nachtarbeit wird der Schlaf-Wach-Rhythmus um acht bis neun Stunden verschoben. Erst nach acht Tagen also sei man im neuen Rhythmus angekommen. Mit künstlichem Licht versuchen die Forscher, die Anpassungszeit zu beschleunigen.

Als Falk 1992 seine Ausbildung zum Krankenpfleger begann, fiel ihm das Arbeiten bei Nacht noch leichter. Heute ist er 39 Jahre alt. „Ab dem 40. Lebensjahr wird es für viele schwieriger, sich anzupassen“, sagt Griefahn. Bei manchen kommen die Probleme auch erst später.

Falk mag am liebsten die Frühschicht von sechs bis vierzehn Uhr. Er sagt: „Der Energieakku ist dann noch gut gefüllt.“ Um die gleiche Leistung wie am Tag zu bringen, muss er sich nachts mehr anstrengen. Damit geht es ihm wie den meisten Nachtarbeitern. Das belegt eine von der Techniker Krankenkasse zitierte Studie. Danach liegt die physiologische Arbeitsbeanspruchung in der Frühschicht bei 100 Prozent, in der Nachtschicht sind es 156 Prozent.

Es ist sechs Uhr. Falk übergibt an einen Kollegen, legt die Dienstkleidung in den Spind. Wie immer wird nach Hause spazieren und auf dem Weg wohl wieder auf den ein oder anderen Basssüchtigen treffen, der gerade aus einem Club kommt.

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