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Wirtschaft: Noch lange nicht normal

Spitzensportlerin Esther Vergeer und Grünen-Chef Cem Özdemir plädieren für Offenheit.

Berlin - Sie blieb fast zehn Jahre lang unbesiegt, 470 Spiele im Rollstuhltennis gewann sie in Serie, Grand Slams, Weltmeisterschaften und Paralympische Spiele, zuletzt 2012 in London. Esther Vergeer gilt als erfolgreichste Sportlerin der Welt. Seit ihrem achten Lebensjahr ist die Niederländerin querschnittgelähmt. Er ist der erste Mann, der mit türkischem Migrationshintergrund zum Bundestagsabgeordneten aufgestiegen ist. Seit 2008 führt er Die Grünen als Bundesvorsitzender. Cem Özdemir wurde in Schwaben geboren, als einziger Sohn einer Gastarbeiterfamilie.

Vergeer setzt sich als Sportlerin für Behinderte ein, damit sie wahrgenommen werden wie jeder andere Mensch auch. Der andere kämpft als Politiker gegen die Vorbehalte gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund. Auf der Diversity- Konferenz des Tagesspiegels gaben beide am Freitag einen Einblick in ihr Leben und ihre Arbeit. Nachdem am Donnerstag vor allem über die Frauenquote diskutiert wurde, ging es am zweiten Tag der Konferenz der Vielfalt um die Themen Herkunft und Behinderung.

„Als ich 1994 in den Bundestag gewählt wurde, gab es noch ein großes Tohuwabohu“, erinnert sich Özdemir. Die Leute hätten gedacht, da kommt jetzt jemand auf dem Teppich angeflogen, der an alle Kopftücher verteilt und die Wasserpfeife auspackt. Wenn der 47-Jährige heute darüber spricht, formuliert er bewusst leicht überspitzt. Was er damit sagen will: „Gegenüber Türken gibt es grundsätzlich größere Vorbehalte als gegenüber Spaniern, Engländern oder Franzosen.“ Heute noch hätten viele Leute Bilder im Kopf, wonach jede Türkin unglücklich und zwangsverheiratet sei und jeder Türke ungebildet und gewalttätig.

Viele Menschen mit türkischem Hintergrund fühlten sich dadurch in eine Ecke gedrängt. „Ich habe mich mit der Situation damals bei meiner Wahl in den Bundestag fast überfordert gefühlt“, erinnert sich Özdemir. Immer wieder würden Migranten mit Vorurteilen konfrontiert und müssten sich ständig erklären, warum die Vorstellung vom Stereotyp nicht der Realität entspricht. „Aber ich denke, wir sind auf einem guten Weg, dass sich das Bewusstsein ändert.“ So seien Menschen mit Migrationshintergrund heute in allen Parteien vertreten.

Wie Cem Özdemir muss sich auch Esther Vergeer in ihrem Alltag immer wieder gegenüber anderen erklären. Seitdem sie ihre Karriere im vergangenen Jahr beendet hat und studiert, seien ihr die Vorbehalte gegenüber Behinderten wieder richtig deutlich geworden. „Im Kreis meiner Kommilitonen merke ich, dass ich in einer Minderheits-Position bin. Als ich gemerkt habe, dass sie sich mit mir unwohl gefühlt haben, habe auch ich mich plötzlich wieder unwohl gefühlt“, berichtet die 32-Jährige. So wie bei der Studienreise nach Barcelona. Als sie nach einer Rollstuhlrampe suchen musste, sei die ganze Gruppe in den Ausnahmezustand verfallen und habe hektisch nach einer Rampe gesucht.

Was kann man tun, damit sich niemand mehr unwohl fühlen muss? „Der einzige Weg ist, miteinander zu sprechen“, erklärt Vergeer. Dabei müsse derjenige mit einer Behinderung Verantwortung übernehmen und zeigen, was er alles allein kann und wobei er Hilfe braucht. „Ich im Rollstuhl darf die anderen nicht dafür einfach beschuldigen, wie sie mich behandeln“, sagt Vergeer. Jeder habe Stereotype im Kopf, die man nur im Austausch und mit klaren Worten abbauen könne – damit Diversity nicht nur eine Idee bleibt, sondern tatsächlich gelebt wird.

Lara Sogorski

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