zum Hauptinhalt

Wirtschaft: Peinlich gibt’s nicht

In Berlin ist das Karaoke-Virus ausgebrochen. Vor Publikum zum Playback mitzuträllern ist witzig – und es entspannt

Blonde, glatte Haare die eine, ein wilder Lockenkopf die andere: Britta und Yasmin stehen im Scheinwerferlicht der Bühne und legen mit „I just call to say I love you“ richtig los. Man könnte die beiden für Popstars halten – wäre da nicht der Monitor mit dem eingeblendeten Liedtext und würden die Mädchen nicht gelegentlich den Ton verfehlen. Macht nichts. Die Gäste der Karaoke-Party in der Dizzylounge des Knaack Clubs klatschen trotzdem. Zurück auf ihrem Platz fallen sich die beiden Mädchen ausgelassen in die Arme. Jeder Mensch träume davon, mal berühmt zu sein, sagt Britta (20), die noch nie zuvor Karaoke gesungen hat. „Eben hatte ich das Gefühl, dass dieser Wunsch für einige Minuten Wirklichkeit geworden ist.“

Sebastian Haase, der als KJ, also Karaoke Jockey, arbeitet und die Partys in der Dizzylounge betreut, kennt solche Situationen: Meist von Freunden überredet, „es doch mal auszuprobieren“, wagen sich die Leute auf die Bühne und wollen dann gar nicht mehr aufhören. Das Karaoke-Virus grassiert derzeit in Berlin. Ob im Monster Ronson’s am Schlesischen Tor, im Knaack an der Greifswalder Straße oder in Kim’s Karaoke Bar am Mehringdamm: Was in Japan seit den 70er Jahren alltägliches Freizeitvergnügen ist, funktioniert auch in der Hauptstadt. Als die Betreiber des Knaack Clubs Mitte der 90er erstmals Karaoke-Nächte ins Programm nahmen, standen sie in der Stadt ziemlich alleine da. Heute kann man an jedem Abend der Woche irgendwo zu Schlagern oder Rockmusik singen. Einen „typischen“ Karaoke-Fan gibt es nicht. „Da kommen alle vom Friedrichshainer Punker bis zur Sekretärin aus Spandau“, sagt der 29-jährige Ron, der in der Szene unter dem Pseudonym „Karaokemonster“ als Geheimtipp gilt. Die meisten Gäste ähneln Britta und Yasmin: Sie wollen sich gut amüsieren, genießen den Nervenkitzel und den Applaus. Wie die Jugendlichen, die gerade auf die Bühne stürmen und grölend „Westerland“ von den Ärzten zum Besten geben.

Aber es gibt auch Experten, die ihre Auftritte ernst nehmen. Holger Niesel zum Beispiel, der seit sieben Jahren Karaoke singt und dafür auch zu Hause übt. Der Mathematikstudent im braunen Jacket steht im Rampenlicht und stimmt den Modern-Talking-Titel „You’re my Heart, you’re my Soul“ an. Kein schiefer Ton stört die Show des 27-Jährigen, gekonnt posiert er auf der Bühne und lächelt den Mädchen zu. Niesel, der „kein Freund von harter Rockmusik“ ist und gefühlvollen Pop und Schlager mag, kann auf eine richtige Karaoke-Karriere zurückblicken: Im Vorjahr gewann er einen Karaoke-Wettbewerb, er hat auch schon eigene Partys organisiert. In der Berliner Szene kennt er sich aus. Das Cheers in Charlottenburg werde gerne von Asiaten besucht, „die Stimmung ist da ein bisschen ruhiger, man geht nur beim Singen aus sich raus“. Im Knaack sei das Publikum jünger und – je nach Alkoholpegel – ausgelassen. Als legendär gelten im Moment die Partys von Ron alias „Karaokemonster“. In dessen Monster Ronson’s Sing Inn, einer verwinkelten Kellerbar im Kreuzberger Wrangel-Kiez, gibt es ein breites Angebot an Rock’n’Roll- und Punkrock-Klassikern von AC/DC bis zu den Rolling Stones. Es ist Holger Niesel aber gar nicht so wichtig, wo er singt. „Was zählt, ist, dass ich meine Gefühle vor einem Publikum überzeugend zum Ausdruck bringe.“ Wenn Leute auf der Karaoke-Bühne richtig aus sich herausgehen, dann sei das wie eine Therapie, sagt Ron – man könne die Alltagssorgen vergessen und sich entspannen. Auf die richtige Melodie komme es dabei nicht an: Die, die am schlechtesten singen, bekommen oft den größten Applaus. „Peinlich gibt’s nicht“, sagen auch Britta und Yasmin. Die beiden Mädchen haben sich einen Toni-Braxton-Titel ausgesucht, schnappen sich das Mikrofon und schmettern noch mal fröhlich drauflos.

Naomi Wolf

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false