zum Hauptinhalt
Der Junge. Mit 46 Jahren ist Vassiliadis der jüngste Gewerkschaftschef in Deutschland. Foto: Oliver Tjaden/laif

© Oliver Tjaden/laif

Porträt: Michael Vassiliadis: Mit aller Kraft pragmatisch

Seit einem Jahr ist Michael Vassiliadis Chef der IG Chemie. Inzwischen hat er seine Rolle gefunden.

Michael Vassiliadis wird ein bisschen zu laut. „Wir haben die Krise gemeinsam bewältigt, gerade in der Industrie“, ruft er ins Mikrofon, als habe er unter den Pirelli-Beschäftigten im Odenwald den einen oder anderen beim Einschlafen beobachtet. Vassiliadis ist Gast auf der Betriebsversammlung des Reifenherstellers. Er hält eine Grundsatzrede. Krisenbewältigung, Leiharbeit, Steuern, Tarife. Immer schön sachlich, bloß keine Polemik gegen die Arbeitgeber. Wenn überhaupt, dann ein bisschen Attacke Richtung Politik. So kennt man das seit Hermann Rappe von den Vorsitzenden der drittgrößten deutschen Gewerkschaft, die sich inzwischen IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) nennt. Kooperation statt Klassenkampf.

Eigentlich ist Vassiliadis fertig, doch dann bittet er nochmal um die Aufmerksamkeit der Leute auf den Bänken zwischen den Gummipaletten. „Ich könnte ja noch zig andere Sachen erzählen, ich mache aber nur noch eins: Wo kommt denn die Wertschöpfung in unserem Land her?“ Die Pirellis freuen sich über die Antwort. Gemeint ist die Industrie, gemeint sind sie selbst. „Wir müssen uns nicht dafür entschuldigen, dass wir Reifen produzieren“, ruft der Gewerkschaftsboss in Dienstkleidung – grauer Anzug, weißes Hemd, blaue Krawatte. Er hat eine Industrie-, gar eine Fortschrittsfeindlichkeit in diesem Land ausgemacht. „Irrwitzig“ nennt er die Widerstände gegen „neue Kraftwerke und neue Pipelines“. „Sollen wir alle Fahrrad fahren?“, fragt er in der Lagerhalle der Firma mit 2500 Arbeitsplätzen, die BMW und Porsche mit Reifen ausrüstet.

Vor einem Jahr wurde Vassiliadis als Nachfolger von Hubertus Schmoldt an die Spitze der IG BCE gewählt. An diesem Tag ist er von Hannover, dem Hauptsitz der Gewerkschaft, nach Frankfurt geflogen, wo sein Fahrer mit einem Audi A8 wartet. Die meisten Gewerkschaftsbosse lassen sich im Audi A8 durchs Land fahren – 70 000 bis 100 000 Kilometer im Jahr, weil Audi günstige Konditionen macht. Und ein Audi sieht auch nicht ganz so nach Spitzenmanager aus wie die Mercedes S-Klasse. Dabei würde die auch Vassiliadis gut stehen. „Managersprech ist ihm nicht fremd“, heißt es über den Gewerkschafter beim Arbeitgeberverband der Chemie. Er tritt gerne an Unis auf oder in der McKinsey-Akademie in Kitzbühel. „Die sind oft überrascht, wie Gewerkschafter auch sein können“, sagt Vassiliadis. Er ist vermutlich noch mehr Pragmatiker als sein Vorgänger und hat auch „viel mehr einen intellektuellen Anspruch als Schmoldt“, wie ein Chemiearbeitgeber meint.

1964 in Essen geboren wurde Vassiliadis nach der Realschule bei Bayer zum Chemielaboranten ausgebildet. In dem Werk, in dem auch sein aus Griechenland stammender Vater arbeitete. Als Azubi trat er der IG Chemie bei, seit 1986 arbeitet er hauptamtlich für die Gewerkschaft. Schmoldt holte ihn 1997 in die Zentrale und baute ihn zu seinem Nachfolger auf. Die Zentrale versucht er nun mit Managementmethoden zu modernisieren, die wichtigsten Mitarbeiter bekamen alle Blackberrys und neue Laptops: Kommunikation verbessern, die Arbeit systematisieren und dazu „das Verhältnis von Analyse, Plan und Aktion besser organisieren“. Dabei durchaus forsch. „Der Übergang zwischen konsequent und radikal ist fließend“, gibt er eine Ahnung von seinem Führungsstil. Köpfe sind nicht gerollt nach dem Wechsel. Aber der Laden läuft jetzt anders. Nach Schmoldt, intern als „großer Vorsitzender“ tituliert, setzt Vassiliadis auf Teamwork.

Eine 35- oder 40-Stunden-Woche gibt es für Arbeiterführer nicht. Rund das Doppelte an Zeit veranschlagt Vassiliadis, vor allem die Besuche an der Basis fressen Zeit, sind aber unverzichtbar, da die Mitgliederzahlen seit Jahren nur eine Richtung kennen. Bei Pirelli waren früher rund 70 Prozent der Belegschaft Mitglied der IG BCE, heute sind es 58 Prozent. Das Hauptthema im Betrieb ist die Leiharbeit. Pirelli hat eine eigene Leiharbeitsfirma und sich mit dem Betriebsrat auf eine Quote geeinigt: Zehn Prozent, also 250 Leute, können als Leiharbeiter beschäftigt werden. Für die Firma eine feine Sache, denn die Personalkosten liegen rund 30 Prozent unter der Kernbelegschaft. Für Beschäftigte, Betriebsräte und Gewerkschaft ein Riesenproblem.

Ein Betriebsrat zu Vassiliadis: „Ihr habt doch zugelassen, dass es eine Zwei-Klassen-Gesellschaft gibt. Obwohl die Rendite für Pirelli hoch ist. Wir als Betriebsrat sind da total überfordert.“

Vassiliadis: „Wir haben Branchen und Betriebe in den vergangenen 20 Jahren verloren. Zu uns gehörten Schuh- und Porzellanindustrie. Es gibt sie nicht mehr in Deutschland. Die Flexibilität durch die Leiharbeit ist eine Antwort auf den Verlagerungsdruck. Aber keine gute.“

Betriebsrat: „Man erwartet von den Leiharbeitern die gleiche Leistung wie von den normal bezahlten Kollegen. Das funktioniert aber nicht. Den Kollegen steht es Oberkante Unterlippe.“

Vassiliadis: „Ihr dürft Euch nicht untereinander selbst zersetzen, weil der Druck so groß ist. Wir haben das Thema Leiharbeit mit der Kanzlerin und Frau von der Leyen rauf und runter diskutiert. Wir wollen die Leiharbeit nicht verbieten. Wir wollen gleiches Geld für gleiche Arbeit.“

Guglielmo Fiocchi ist der Chef in der Deutschland-Zentrale von Pirelli im Odenwald. Später auf der Betriebsversammlung wird er die Belegschaft an den Herbst 2008 erinnern, „als die Welt runtergefallen war“. Ausgerutscht auf der Finanzkrise. Jetzt laufen die Geschäfte wieder und Fiocchi erklärt Vassiliadis in seinem Büro die Pirelli-Welt. In Italien und Spanien sind Werke geschlossen, in China und Brasilien neue gebaut worden. Was wird aus Deutschland? „Es geht nicht um Geld, sonst wären wir schon zu“, sagt Fiocchi. „Es ist unsere Industriequalität und Zuverlässigkeit.“ Und auch die deutsche Mitbestimmungskultur. „In Mailand wird sehr geschätzt, dass wir mit dem Betriebsrat einvernehmliche Lösungen finden.“ Aber als Vassiliadis über Leiharbeit und gleiches Geld für gleiche Arbeit spricht, lässt Fiocchi keinen Zweifel: „Ich sage offen, da ist für mich Ende. Das kostet Millionen, das geht nicht.“

Ein paar Minuten später, vor der Belegschaft, wiederholt Vassiliadis seine Forderung. Das haben die Kollegen erwartet, dafür gibt es Beifall. Kaum ist die Halle wieder ruhig, kommt der IG-Chemie-Stil zu Wort. „Am Ende darf das nicht dazu führen, dass die Kuh tot ist.“ Mit der Kuh ist der Betrieb gemeint, der auf keinen Fall gefährdet werden darf. Und auch keinen Krawall, das ist man nicht gewohnt. Vor 39 Jahren gab es den letzten Streik in der Chemie. Vermutlich kommen unter dem neuen Chef noch ein paar Jahre dazu. „Die Partnerschaft läuft auch mit Vassiliadis weiter“, heißt es bei den Arbeitgebern.

Auf Partnerschaft setzt der Gewerkschafter auch mit der Politik, vor allem, was die Steinkohleförderung betrifft. Die Gewerkschaft, „die ihnen nie übel mitgespielt hat“, glaubt Vassiliadis, werde die Bundesregierung „schon nicht in eine unangenehme Situation bringen“. Er setzt auf Angela Merkel (CDU), die sich in dieser Sache gegen Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) positioniert hat. Vassiliadis weiß: Beim Kampf um die Kohle wird sich zeigen, ob ihm die Schuhe Schmoldts schon passen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false