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Rettung einer Legende: Zen oder Die Kunst eine Motorradfirma zu warten

Endlich einer, der nach Benzin riecht, sagten die Leute und witterten eine Qualifikation dahinter. Eine, die ihm, dem Ex-Motorradrennfahrer helfen sollte, die Traditionsfirma MZ zu retten. Dass er scheiterte, mag Martin Wimmer noch nicht glauben. Er sagt: „Das Rennen ist erst zu Ende, wenn die Flagge fällt“.

Den Wettstreit, wer von all den Menschen ringsum zuerst von diesem bleigrauen Herbsttag verschluckt werden würde, hat Martin Wimmer nun auch noch gewonnen. Ein graugesichtiger, erschöpfter Mann im grauen Anzug, unterwegs im faden Licht des Berliner Hauptbahnhofs, einen Rollkoffer an jeder Hand und beladen mit noch viel mehr. Er geht ein paar Schritte, vom Eiscafé Zanetti hin zu den Tiefbahnsteigen, und er ist weg.

Am Vormittag war er mit dem Flugzeug aus New York in der Stadt angekommen, am Nachmittag wird er eine geschäftliche Verabredung in Leipzig haben und am Abend dann eine in Frankfurt am Main. Wimmer, Tempomacher, seit er sich mit zwölf Jahren ein Fahrrad mit Benzinmotor baute und fortan damit zur Schule fuhr. Nun auch noch Schnellster in der Disziplin des Verschwindens.

Martin Wimmer, 55 Jahre alt, ist nach seiner Schulzeit ein bekannter Motorradrennfahrer gewesen. In den 80er Jahren hat er drei Grand-Prix-Rennen gewonnen, ist sechs Mal Zweiter und sieben Mal Dritter geworden, er hat sich acht Polepositionen herbeigerast und acht Rundenrekorde. Er hat drei Semester Jura studiert, Fahrwerksysteme erfunden, war Motorsportorganisator beim ADAC und vier Jahre lang in China, um dort im Auftrag anderer Leute eine Fabrik aufzubauen. Dann, dreieinhalb Jahre ist das jetzt her, kaufte er sich selbst eine Firma. Oder eine Legende. Oder eine leere Hülle. Je nach Sichtweise. Die Firmenlegendenhülle heißt MZ.

New York, Berlin, Leipzig, Frankfurt in 24 Stunden. Wimmer hat, obwohl er seit einigen Wochen einen Anlass dafür hätte, Ruhe zu geben, sein Tempo noch einmal beschleunigt. Der Anlass besteht darin, dass Martin Wimmer Anfang September die Insolvenz von MZ beantragen musste. Ein Insolvenzverwalter führt nun erst einmal die Geschäfte, und natürlich stehen die Chancen dafür, dass es weitergeht, und zwar mit Wimmer, nicht gut. Aber vorhin, am Eiscafétisch hatte er gesagt: „Das Rennen ist erst zu Ende, wenn die Flagge fällt.“

„Wahnsinns-Wimmer“, schrieben die Zeitungen einmal in einer ähnlichen Situation über ihn, „Kamikaze-Gemüt“. Sie diagnostizierten einen „schwer verständlichen Ehrgeiz“, als er 1987 auf der Piste von Hockenheim stürzte und nach drei Wochen Pause die Rennserie einfach weiterfuhr. Mit gebrochenem Schien- und Wadenbein und Sprunggelenk und mit einem zertrümmerten kleinen Finger stieg er wieder aufs Motorrad. Er war schnell genug, um sofort wieder auf einen Punkte-Rang zu fahren.

Wimmer kann deshalb auf eine sehr freundliche Art ausgesprochen verständnislos schauen, wenn er nach den Erfolgsaussichten seines heutigen Eifers gefragt wird. „Aber interessant ist das schon“, sagt er dann nach einer Weile, „ein Erlebnis, wie man von einem Tag auf den andern keine Funktion mehr hat im eigenen Unternehmen.“ Wie er plötzlich auf manche seiner Mitarbeiter träfe, die nicht mehr „Guten Tag“ sagen. Wimmer klingt erstaunt dabei. Er scheint ohne Groll zu sein, er scheint das nicht übel zu nehmen. Und doch ist es ihm der Erwähnung wert, so, als ob nicht seine Kapitulationsverweigerung, sondern das Unsichtbarwerden das Bemerkenswerteste an einer Pleiteerfahrung ist. Aber vielleicht ist es das ja auch.

Dann steht er auf und geht. Zurück auf dem Cafétisch bleibt ein Zettel. Krakelige, von Wimmer hingemalte Skizzen eines Verbrennungsmotorzylinders. Sie stellen eine Erfindung dar, eine Idee. Wimmers Antrieb. Es ist das Wertvollste, was er noch hat.

Wo fängt man an, um klarzumachen, für was genau dieser Zylindermechanismus die Rettung sein soll? Wessen Untergang damit vielleicht doch noch abgewendet werden könnte?

Vor 105 Jahren? Als ein dänischer Ingenieur in eine einstige Tuchfabrik in der Erzgebirgsstadt Zschopau einzog und dort erst Versuche mit einem dampfkraftbetriebenen Auto machte, dann einen Spielzeugverbrennungsmotor baute, einen Fahrradantrieb und schließlich, 1922, ein erstes Motorrad? 1928, als dieses Werk mit dem Namen DKW zum größten Motorradhersteller der Welt geworden war? Oder zwei Jahrzehnte später, als es sich erst in der sowjetischen Besatzungszone und dann in der DDR wiederfand und unter dem Namen VEB Motorradwerk Zschopau auf Millionenstückzahlen kam?

Vielleicht fängt man am einfachsten am 23. Mai 2009 an. MZ befand sich im 20. Jahr seines Weges in Richtung Bedeutungslosigkeit. Die Firma hatte die Währungsunion und die Wiedervereinigung kaum verkraften können, in der Folge hatte es Konkurse und Besitzerwechsel gegeben. Die Anzahl der Mitarbeiter war von 3200 auf acht zurückgegangen. Bald würden es wieder 23 sein, aber nun war erst einmal Mai, und an den Rand des Zschopauer Marktplatzes war eine Bühne gebaut. Plakate mit der Aufschrift „MZ lebt“ hingen herum. Die Sonne schien.

Auf der Bühne standen Wimmer, neben ihm seine Frau und Ralf Waldmann, auch er ist ein einstiger Motorradrennfahrer. Sie waren die brandneuen MZ-Besitzer, und an diesem Tag wollten sie das feiern. Hunderte Augenpaare richteten sich auf die drei. Die wiederum schauten in die Augen von Menschen einer Stadt, die längst abgeschlossen hatte mit MZ, die überhaupt erst einmal wieder an dieses Werk erinnert werden musste.

Der Bürgermeister war auch da. Er hielt eine Rede. Er freue sich, sagte er, nicht zuletzt darüber, dass die Firma nach Jahren, in denen sie sich vom Ort und den Leuten hier immer mehr abgeschottet hatte, endlich wieder einmal hergekommen ist zu ihnen. Es gab Bier der Marke Braustolz und Applaus.

Endlich einer, der nach Benzin riecht, sagten die Leute. Sie witterten eine Qualifikation dahinter, eine, die der tschechische Unternehmensberater und der malaysische Mischkonzern, die vorher die Geschäfte bei MZ führten, nicht gehabt hatten. Wimmer stieg von der Bühne herab und drückte Hände. Er hatte Zeit für jeden auf dem Marktplatz. Er begutachtete MZ- und DKW-Oldtimer und Rennmaschinen. Zu jedem der hier unten ausgestellten Motorräder konnte er eine Geschichte erzählen. Er war vorbereitet, fanden die Leute, er schien zu wissen, was für ein Erbe er gerade angetreten hatte. Irgendwann erkannten sie aber auch, dass dies eigentlich nur eine Bürde sein konnte.

Denn zum Marktplatzfest war auch Claus Uhlmann angereist. Nun stand er neben seiner RT 125, einem Ende der 30er Jahre in Zschopau entwickelten Motorradmodell. Bis 1962 wurde es hier gebaut. Wimmer kam auf Uhlmann zu, wieder ein Händedruck. Ein langes Zwiegespräch begann, das in einen Wimmer-Monolog mündete, in dessen Verlauf die Gesichter der Umstehenden immer verblüfftere Züge bekamen. Da wusste einer etwas, von dem sie selbst noch nie gehört zu haben schienen.

„Meistkopiertes Motorrad der Welt“, sagte Wimmer. Preiswert, zuverlässig, einst das Maß aller Dinge. Nach dem Krieg auf das heiße Interesse der alliierten Siegermächte gestoßen.

Die Sowjetunion ließ damals nahezu das gesamte Zschopauer Werk demontieren und daheim wieder aufbauen. Aus Moskau kam fortan das Plagiat Moskwa M1A, aus Minsk die Minsk und aus der Stadt Kowrow die Komet K 125. In Großbritannien landete ein Waggon voller Baupläne, so dass die in Birmingham ansässige Motorradfirma BSA eine Kopie unter dem Namen Bantam herstellen konnte. Die amerikanischen Varianten hießen Harley-Davidson S 125 und Hummer.

Die erstaunlichste Kopie wurde allerdings in Japan gebaut. Dort waren die Chefs einer Klavierfabrik auf die RT 125 aufmerksam geworden. Sie bauten sie nach und gaben ihrer damit neu geschaffenen Motorradabteilung den Namen Yamaha. „Schon irre, was“, sagte Wimmer auf dem Zschopauer Marktplatz. „So eine Weltfirma heute, und worauf hat die sich gegründet? Auf die Arbeit der Leute von hier.“

Uhlmann erinnert sich noch gut daran. Er sagt, er glaube nicht, dass Wimmer mit seiner Erzählung damals das Maß vorgegeben habe, an dem er sich messen wollte. „Der wollte den Stolz der Leute kitzeln“, sagt er. „Vorher auf der Bühne hat er ja von Blockheizkraftwerken geredet und von Rasenmähermotoren. Da sollte es hingehen. Und dann dieser Roller, mit Elektromotor. Zukunftsnischen.“

Uhlmann ist, was sein Hobby angeht, ein Mann der Vergangenheit. Er sammelt und restauriert RT-125-Ruinen. Er hat ein Buch über das Modell geschrieben und organisiert jedes Jahr im August Liebhabertreffen bei sich daheim in Dorfchemnitz, ein paar Kilometer von Zschopau entfernt. Zu diesen Treffen lädt er stets auch alt gewordene MZ-Ingenieure und -Rennfahrer ein. Es gibt dann immer ein Lagerfeuer und viel zu erzählen, über Kettenschutz-Innovationen, über die Vor- und Nachteile von Zwei- und Viertaktmotoren, über die Ersatzteilbeschaffung, und seit dem August 2009 wird in Dorfchemnitz auch einmal im Jahr über Wimmer geredet. Wollte man die Gespräche der letzten vier Treffen zusammenfassen, könnte man konstatieren: Im Grunde hat Wimmer alles richtig gemacht, bis auf eines, ganz am Anfang. Er hätte MZ nicht kaufen sollen. Es sei damals längst zu spät gewesen.

Die Marke war bis dahin nämlich nicht nur immer bedeutungsloser geworden. Sie hatte zudem bei jenen, die sie überhaupt noch zur Kenntnis nahmen, an Ruf eingebüßt. Kam früher kaum ein Werbetext für die Zschopauer Motorräder ohne das Wort Zuverlässigkeit aus, so schienen die beiden zurückliegenden Jahrzehnte bei MZ vor allem durch nicht eingelöste Ankündigungen neuer Modelle geprägt. Am Dorfchemnitzer Lagerfeuer kursierte der Satz: Was hätte der Wimmer denn da noch machen können?

Nun, er ließ tatsächlich Elektroroller montieren. Im Winter 2009 kaufte ihm die Leipziger Messe den ersten davon ab. Es lag Schnee, der Messe-Pressesprecher fuhr ein paar Runden, Charly hieß das Modell. Charly klang wie eine anfahrende Straßenbahn. „Ein gutes Produkt“, sagte der Pressesprecher, der Kauf habe ihm am Herzen gelegen, auch der Förderung regionaler Produkte wegen, und natürlich hoffe er auf Synergieeffekte. Er meinte damit, dass dieser Rollerkauf ein klein wenig zur Gesundung von MZ beitragen würde, auf dass die Firma sich vielleicht bald wieder einmal einen Messestand in Leipzig leisten könne. Ein Roller. Der Mann sagte: „Falls das Gerät sich bewährt haben wird, werden wir vielleicht über ein, zwei Neuanschaffungen nachdenken.“

Es klang vernünftig und war gut gemeint. Doch es reichte nicht. Zu viele Kunden schienen nur darüber nachzudenken, sich Charly anzuschaffen, zu wenige taten das dann auch. Zuletzt, im Oktober dieses Jahres, stellte MZ auf einer Kölner Motorradmesse den Charly-Nachfolger Emmely aus. Das Interesse daran war gering. Wimmers Ehefrau und Waldmann waren da längst aus der Firma ausgestiegen.

Nimmt man die Mitarbeiterzahlen als Maßstab, bis zu diesem September gab es 50 davon, ging es dennoch bergauf. Allerdings gelang dies nicht ohne eine Bürgschaft des Landes Sachsen, mit der Kredite von MZ abgesichert wurden.

Am Ende blieben zwei Firmen MZ eine halbe Million Euro schuldig. Ein Zulieferbetrieb ging ein. Wimmer konnte keine Löhne mehr zahlen und musste zum Amtsgericht.

Uhlmann, der Oldtimer-Fachmann, beobachtet schon seit einiger Zeit, dass auf Ebay die Preise für alte MZ-Modelle steigen. „Ist eigentlich kein gutes Zeichen“, sagt er. Er weiß aus Erfahrung: Je vergangener etwas ist, umso teurer wird es irgendwann wieder.

Martin Wimmer mag nicht daran glauben, dass es vorbei sei. Er sitzt am Cafétisch im Berliner Hauptbahnhof, es sind noch ein paar Minuten, bevor er aufstehen wird. Er zeigt auf den Zettel mit der Zeichnung und sagt den Satz mit dem Rennen und der Flagge. Die sei noch lange nicht unten, denn der hingemalte Motor da, „ein Viertel weniger Sprit als alle anderen verbraucht der“, das sei die Zukunft. „Das ist der Schlüssel für die neuen Abgasnormen für Motorräder. Weltneuheit“, sagt er.

Vielleicht hat sich sein Durchhalten schon ausgezahlt. Denn der Insolvenzverwalter sagte in der vergangenen Woche, er sehe das ähnlich. Mit dem neuen Motor könne die Firma womöglich überleben.

Wimmer muss jetzt nur noch ein einziges Rennen gewinnen: Er muss Geld beschaffen, mit dem er seine Gläubiger auszahlen kann. Bevor es jemand anderes tut.

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