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Russland: Gazprom: Der rätselhafte Riese

Korrupt, gefährlich, undurchsichtig: Kein anderes Unternehmen in Europa ruft so heftige Emotionen hervor wie der russische Gigant Gazprom, der größte Gasexporteur der Welt. Die Mitarbeiter der Monsterfirma sind da allerdings völlig anderer Ansicht.

Man kann sich den Konzern wie einen Organismus vorstellen. Dann säße das Hirn in Moskau, Gazproms Herz aber läge weit hinterm Ural. Es ist so groß, dass man auf Abstand gehen muss, um wenigstens einen Teil davon zu sehen: So steigt der alte Transporthubschrauber in der Provinzstadt Surgut 100, 200, 300 Meter hoch in den sibirischen Himmel und wummert über die Taiga. Bis zum Horizont ein Meer aus Fichten, Laubbäumen, braungelbtrüben Seen. Die Landschaft ist durchzogen von Nebenarmen des Stromes Ob, die aus allen Richtungen zu kommen scheinen. Die größeren sind breiter als Elbe, Donau und Rhein zusammen.

Alle paar Flugminuten zerschneidet die Trasse einer Pipeline oder Hochspannungsleitung die Sumpfwüste, Autospuren schlängeln sich hindurch. Sie heben sich dunkel vom Boden ab, verschwinden im Nichts. Leben hier Menschen? „Nein, nicht wirklich“, sagt ein Gazprom-Begleiter. Diese Spuren könnten jahrzehntealt sein. Die Taiga vergisst nichts.

Hier, in Russlands autonomer Provinz der Chanten und Mansen, zweier Urvölker, suchten Stalins Ingenieure in den 1930er Jahren nach Öl, zunächst erfolglos. Erst 1953, dem Jahr, als der Diktator starb, stießen sie erstmals auf Öl – und Gas. Letzteres betrachtete man lange als ein Abfallprodukt der Ölförderung, da man es schlecht in Fässer füllen und transportieren kann. Als man aber den großen Nutzwert des Rohstoffes für die Erzeugung von Wärme und Strom erkannte, bauten die Russen ein 160 000 Kilometer langes Netz von Pipelines, das die Gasfelder miteinander verbindet und den Rohstoff ins Ausland bringt. Die größten Felder verteilen sich in einem breiten Gürtel vom Nordmeer bis in den Kaukasus. In dicken Rohren strömt das Gas über den Ural gen Westen bis nach Mitteleuropa, auch bis nach Deutschland.

Dieses Netz und noch viel mehr, darunter Banken, Sportvereine und sogar ein Kinderradiosender, gehören der einen Firma: Gazprom, dem größten Gasexporteur der Welt. In dem hochkomplexen Konzerngeflecht arbeiten weltweit rund 450 000 Menschen. Gazprom setzte 2009 umgerechnet rund 70 Milliarden Euro um. Das war zwar etwas weniger als Europas größter nichtstaatlicher Energiekonzern Eon erlöste. Dafür beschäftigt Gazprom fünfmal so viele Leute wie Eon mit seinem Hauptsitz in Düsseldorf.

Allein diese Diskrepanz sagt viel aus: Wäre die Gazprom-Aktiengesellschaft eine AG nach westlichen Maßstäben, hätte das Unternehmen sicher eine viel schlankere Verwaltung und eine transparentere Struktur. Dafür würden die privaten Anteilseigner schon sorgen. Doch der Konzern funktioniert anders und löst wie kein zweites Unternehmen in Europa heftige Emotionen aus: Wut und Angst bei Kreml-Kritikern, Unbehagen und Ablehnung bei Kunden hierzulande – weil Gazprom politisch ist.

Der Riese Gazprom hat im vergangenen Jahr, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, etwas von seiner Macht verloren. Weil vor allem die Industriekunden – gerade in Deutschland – weniger Gas brauchten, sanken Gazproms Einnahmen dramatisch. Darunter litt auch Russlands Staatshaushalt. Außerdem gelangt immer mehr Flüssiggas aus Übersee mit Tankschiffen nach Europa. Diese Entwicklung führte dazu, dass deutsche Gasimporteure Gazprom in diesem Jahr erstmals zwingen konnten, die Preise zu senken.

Der Name ist eine Abkürzung des russischen Wortes für Gasindustrie. 1992 wurde das Unternehmen unter Präsident Boris Jelzin teilprivatisiert und wäre womöglich nach und nach ganz an Oligarchen verkauft worden. Verhindert hat das Jelzins Nachfolger Wladimir Putin, der nach seinem Amtsantritt im Jahr 2000 seinen Vertrauten Dmitri Medwedew, den heutigen Präsidenten, als Gazprom-Aufsichtsrat einsetzte. Der entließ Mitarbeiter und sorgte dafür, dass der Laden nicht in 1000 Gesellschaften auseinanderflog.

In Deutschland verbindet man die Firma zunächst mit dem „lupenreinen Demokraten“ Wladimir Putin und dem Urheber dieses Attributs, Altkanzler Gerhard Schröder, der für Gazproms Ostseepipeline Lobbyarbeit macht. Fußballfreunde denken noch an den Bundesligisten Schalke 04, den Gazprom sponsort – und das sind noch die freundlichen Assoziationen. Viele Deutsche halten Gazprom für den außenwirtschaftlichen Arm einer nach Macht strebenden russischen Regierung, für undurchsichtig, korrupt und gefährlich sogar. Gazprom ist hierzulande die Projektionsfläche für das widersprüchliche Russlandbild der Deutschen. Aber was ist Gazprom daheim, in Russland?

Der Hubschrauber dreht und schwankt abwärts zu einem Platz vor einem fußballfeldgroßen Industriekomplex, der umzäunt im Wald liegt. Mattmetallisch dämmern Verkleidungen, Schornsteine und Rohre in der Sonne. Es ist eine Gasverdichterstation. Derartige Anlagen stehen alle 200 bis 300 Kilometer im flachen Land verteilt. Dort wird das Erdgas in mannshohen Turbinen auf 75 bar Druck verdichtet. So bewegen sich die Gasmoleküle mit etwa 40 Kilometern in der Stunde durchs Netz.

Die Station wurde 1979 vom deutschen Anlagenbauer Mannesmann errichtet. Im Gegenzug erhielt die westdeutsche Industrie damals erste Gaslieferungen. „Deutsche Spitzenqualität“, schwärmt Werksleiter Viktor Gudemowitsch gleich beim Empfang am Boden. 20 Jahre Garantie hätten die Deutschen damals gegeben. Jetzt sind 31 Jahre vorbei, da müsse man öfter mal Teile wegen der Wartung abschalten. Schließlich müssten sie hier Außentemperaturen zwischen minus 70 Grad und plus 40 aushalten. „Die Anlage läuft gut, Mannesmann läuft gar nicht mehr“, lacht er.

Das einst mächtige Industrieunternehmen wurde im Jahr 2000 vom britischen Telekomunternehmen Vodafone übernommen und zerschlagen. Ein Schicksal, das Gazprom nicht ereilen kann, solange der russische Staat weiter mehr als 50 Prozent der Anteile hält.

Es dürfte zumindest in Sibirien nicht viele geben, die daran etwas ändern wollen: Gazprom zahlt den 150 Mitarbeitern auf dieser Gasverdichterstation rund 1100 Euro im Monat, etwa das Doppelte des russischen Durchschnittslohns. Dafür arbeiten die Spezialisten in Sibirien zwei Wochen lang in Zwölf-Stunden-Schichten auf der Anlage. Etwas abseits der lauten Kompressorhalle stehen Plattenbauten mit Wohnungen um einen Park herum, in dessen Mitte eine Holzkapelle errichtet wurde. Die ist innen weiß und goldfarben gestrichen, verziert mit Ikonen und geschnitzten Ornamenten. In der gut geheizten Sporthalle wachsen Kräuter in Kästen auf den Fensterbänken, im Laden nebenan gibt es alles – vom Pfefferminzbonbon bis zur DVD. Aber keinen Alkohol.

Wer russisch feiern will, kann mit den Kollegen oder der Familie ein Wochenende im betriebseigenen Ferienheim buchen. Das liegt eine halbe Flugstunde entfernt im Wald an einem See. Der Hauswart serviert Gästen Filet vom Stör und schenkt eiskalten Pinienkernwodka aus einer Drei-Liter-Flasche ein. Will man mehr? Viele Gazprom-Mitarbeiter jedenfalls nicht.

Ein Drehkreuz im Gazprom-Reich ist Surgut. Die Einwohnerzahl dieser sibirische Regionalmetropole ist seit den 60er Jahren von unter 10 000 auf heute 300 000 Einwohner gestiegen. Die meisten sind Mitarbeiter der Rohstoffkonzerne Gazprom, Lukoil und Surgut Neftegaz und ihre Familien. Es ist eine kalte Stadt mit balkonlosen Bauten aus Stahl und Beton. Die einfachen Arbeiter wohnen in schlecht gedämmten Plattenbauten am Rande und regen sich darüber auf, dass sie fürs Heizen bezahlen müssen, obwohl sie doch halb Europa mit Energie versorgen. Das war zu Sowjet-Zeiten nicht so.

Surgut ist gemessen am Pro-Kopf-Einkommen nach Moskau und Sankt Petersburg die drittreichste Stadt Russlands. In einem gewöhnlichen Supermarkt wählen Kunden zwischen Gemüse aus Frankreich, Tiefkühlpizzen von Dr. Oetker und Joghurts von Danone. Es gibt Bier von Budweiser, Carlsberg, Warsteiner oder 20 anderen Brauereien. Oder Wein von der Mosel und aus dem Rheingau zum deutschen Preis eines Mittelklasse-Champagners. Surguts Bürger können das zahlen.

Moskau, vier Flugzeugstunden weiter westlich. Hier wird der Organismus Gazprom gesteuert. Das Hirn, sagen Kritiker, liegt heute im Weißen Haus, dem Regierungssitz Putins. Ein Wolkenkratzer mit spitzem Dach und blaugrauer Fassade ein paar Metrostationen weiter, die Gazprom-Zentrale, sei nur das Rückenmark, um im Bilde zu bleiben: Dort verteilen sich die Befehle von ganz oben an die vielen Glieder, die auch bis nach Berlin, London und sogar Nigeria reichen.

Im achten Stock eines Seitenflügels des scharf gesicherten Gebäudes ist die technische Schaltzentrale. Eine Handvoll Mitarbeiter sitzt still vor Computern, davor eine etwa zehn mal vier Meter große elektronische Leinwand, die alle paar Sekunden umschaltet und eine andere Detailansicht des Netzes zeigt. Neben den schematisch dargestellten Leitungen stehen Angaben wie Druck und Außentemperatur. Dann wechselt die Ansicht in die Totale: Man muss den Kopf von ganz links nach ganz rechts drehen, um Gazproms Gasreich zu sehen – Leitungen von der Ostsee bis zum Pazifik.

Im Hauptturm kurz unterm Spitzdach sitzt Alexander Medwedew in seinem edelholzgetäfelten 80-Quadratmeter-Büro. Er ist Vizechef und „Außenminister“ des Konzerns. Er spricht ein wenig Deutsch, perfekt Englisch, und das meist milde im Ton. Er sagt Sätze wie: „Unsere Konflikte mit der Ukraine oder jetzt Weißrussland werden unnötig politisiert“ und – als wäre das überhaupt kein Widerspruch – „Politik wird immer involviert sein in unserem Geschäft“. Man trage rund 20 Prozent zu den Einnahmen des russischen Haushaltes bei. Er spricht über den Verein Schalke, dessen Stil er möge, und Gerhard Schröder, „dessen Rolle ich besonders herausstellen möchte“. Der nehme zwar nicht an den Konzernmeetings teil, er habe eher die wichtige Aufgabe eines objektiven Beobachters.

„Alles nur Phrasen“, sagt Walerij Panjuschkin. Der Journalist und Buchautor sitzt am Abend in einem Studentenviertel Moskaus in einem Restaurant. „Damals, in den 90ern, war Gazprom eine Bedrohung für den Staat“, sagt Panjuschkin am Tisch in einem Hinterzimmer. Die berüchtigten Oligarchen, reiche Privatunternehmer, seien damals drauf und dran gewesen, sich den Konzern komplett unter den Nagel zu reißen. Das habe Putin vereitelt und sich damit im Volk beliebt gemacht. „Heute ist Gazprom dafür ein Instrument und Selbstbedienungsladen der Regierung.“ Diese brauche die Gazprom-Mitarbeiter, damit sie die Bodenschätze aus dem Land ziehen, und bezahle sie gut, gewähre ihnen gute Medizin- und Altersversorgung. „Alle anderen Russen, egal ob Lehrer, Forscher, Ärzte sind ihr völlig egal“, sagt Panjuschkin.

Er kritzelt mit einem Kugelschreiber Kreise und Vierecke auf einen Zettel, verbindet sie mit Linien, spricht von Geldwäsche und Korruption. Belege für jedes Detail hat er nicht, was ihn nicht daran hindert, seine Thesen in Büchern zu veröffentlichen. Repressionen fürchtet er nicht. Da er in Russland kaum gelesen wird, ignorieren ihn die Behörden meist. In Deutschland dagegen hat er Erfolg.

Die Gazprom-Chefs seien persönlich zu eng verbandelt mit der Regierung und zudem mittlerweile derart abgehoben, dass sie die Kritik einfacher Bürger nicht mehr verstehen könnten, sagt Panjuschkin. Er berichtet von einem Besuch im Privathaus von Gazprom-Chef Alexej Miller. Die Einrichtung sei der Eremitage in St. Petersburg nachempfunden. Im Empfangsraum liege ein Seidenteppich, der bei jedem Krümel Zigarettenasche, die darauf fällt, ausgetauscht werden müsse. In Millers Welt sei alles ganz simpel. „Er dachte, wenn man Ex-Kanzler Gerhard Schröder ans Unternehmen bindet, wird Gazprom auch in Deutschland sofort ein tolles Image bekommen“, sagt Panjuschkin. „Und? Hat es geklappt?“, will er wissen.

Drei Flugstunden weiter gen Westen, in Berlin. Hier im wichtigen Kundenland verlässt Gazprom sich bei der Imagepflege nicht auf den Altkanzler allein. In einem sandsteinfarbenen Büroneubau in der Markgrafenstraße in Berlin-Mitte residiert Gazprom Germania, eines der – gemessen am Jahresumsatz von acht Milliarden Euro – größten Unternehmen Berlins und ein entsprechend großer Steuerzahler. Gazprom Germania und ihre Tochter ZNB vertreiben von Berlin aus Gas in 20 Ländern Europas und Zentralasiens. In Berlin ist es Gazproms Hand, die Gas verteilt und Geld nimmt. 2009 konnte die Berliner Dependance so rund eine halbe Milliarde Euro Gewinn nach Moskau überweisen.

Aufgebaut hat diese Außenstelle 1990 Hans-Joachim Gornig, ein Mann, der schon in der DDR am großen Rad der Branche drehte und nicht unumstritten ist. In kleiner Runde tritt der Endsechziger freundlich und bescheiden auf, sogar witzig. Die große Öffentlichkeit aber scheut er. Er ärgert sich, was für ein negatives Bild „die Medien“ von Gazprom und Russland insgesamt zeichnen.

Ende Juli kam auch für Gornig die Wende. Gazprom-Vize Medwedew, der Außenminister, flog an der Spree ein und stellte im Hotel Regent den neuen Chef von Gazprom Germania vor. Er heißt Vladimir Kotenev, in Berlin auch bekannt als der „Party-Botschafter“. Kotenev war sechs Jahre lang Gesandter Russlands in Deutschland und schaffte es zumindest unter Politikern und Wirtschaftsbossen tatsächlich, das Russlandbild positiv zu verändern – vor allem indem er und seine Frau glamouröse Feste veranstalteten.

Bei der Vorstellung findet Medwedew klare Worte: Das Unternehmen erwarte von Kotenev, dass dieser die Geschäfte mit „Aggressivität, Effizienz und einer Fülle neuer Ideen“ voranbringe. Auch seien seine diplomatischen Fähigkeiten gefragt. Und Kotenev, jetzt Geschäftsführer, sagt: „Man muss aufhören, Gazprom zu dämonisieren.“

So wenig, wie man ein scharfes Bild von dem gesamten Land zeichnen kann, so wenig kann es ein einheitliches Gazprom-Bild geben. Gibt es im Organismus Korruption? Bestimmt. Aber wer hätte vor zwei Jahren gedacht, dass deutsche Industriekonzerne wie Siemens, Daimler oder MAN hohe Millionenstrafen zahlen müssen, weil einige ihrer Manager jahrelang heimlich die Regeln des fairen Wettbewerbs gebrochen haben. Vielleicht muss man sich gelegentlich ein wenig von Deutschland entfernen, um auch diesen Teil davon zu sehen.

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