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Wirtschaft: „Scheinheilige Doppelmoral“

Die Arbeitsorganisation ILO ächtet auf ihrer Konferenz in Brasilien Kinderarbeit – Widerstand kommt von vermeintlich Betroffenen.

La Paz - Brian hat einen anstrengenden Tag hinter sich. Seit sechs Uhr früh ist der Junge auf den Beinen, war in der Schule und ist dann mit dem Bus ins Zentrum von La Paz gefahren, um seinen Schuhputzstand aufzubauen. In drei Stunden hat er gerade einmal umgerechnet 1,50 Euro eingenommen. Um vier Uhr nachmittags ist er zur Stiftung Nuevo Dia gekommen. Dort kann er sein Arbeitsgerät verstauen, sich duschen und mit einem Nachhilfelehrer Hausaufgaben machen, bevor er die einstündige Rückfahrt nach Hause antritt. Brian hat fünf Geschwister, seine Familie ist arm. Seit er 14 ist, arbeitet er, um ein Zubrot zu verdienen. Er ist einer von einer Million arbeitenden Kindern in Bolivien.

In Brasilien sind es noch mehr. Mit einem Appell zur Beendigung extremer Ausbeutung von Jungen und Mädchen bis 2016 ist dort am Freitag die internationale Konferenz zu Kinderarbeit zu Ende gegangen. Drei Tage lang hatten 1000 Delegierte aus 153 Staaten über eine bessere Kooperation im Kampf gegen das Phänomen beraten. Noch immer arbeiten laut der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) weltweit 168 Millionen Kinder, die Hälfte davon in „schlimmsten Formen der Ausbeutung wie Zwangsarbeit in Minen oder im Sexgewerbe“. Die Delegierten aus Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften vereinbarten unter anderem grenzübergreifende Maßnahmen in den Bereichen Bildung und Sozialpolitik. Allerdings wurden entgegen den Erwartungen keine neuen Zielsetzungen für die Zeit nach 2016 formuliert.

Draußen bleiben mussten diejenigen, die als vermeintlich Betroffene gerne mitdiskutiert hätten: Von Bolivien über Chile, Kolumbien, Paraguay bis Venezuela haben sich Gewerkschaften im Namen der Kinderarbeiter gegründet. Es gibt sogar einen lateinamerikanischen Dachverband. Mit einem generellen Verbot sei niemandem geholfen, warnt der. Für Millionen von Kindern sei Arbeit die einzige Möglichkeit, zu essen oder zur Schule zu gehen. „Schlauer wäre es, die Kinderarbeit zu regulieren, um Missbrauch zu verhindern“, sagte Janeth Urcuhuaranga von der peruanischen Vereinigung der christlichen Kinderarbeiter, Manthoc. An Arbeit sieht sie nichts Verwerfliches: Arbeit, Freizeit und Bildung gehen für sie Hand in Hand, stärken Charakter und Verantwortungsbewusstsein.

In Bolivien haben die streitbaren Gewerkschaften bereits einen Erfolg verzeichnet: Das Verbot der Kinderarbeit in der Verfassung wurde durch einen Passus ersetzt, der die Ausbeutung von Kindern verbietet. Die Grenzen sind der ILO zu vage, sie bezeichnet die Kindergewerkschaften als „nicht repräsentativ“. Für „scheinheilig“ hält das Erika Alfageme von Save the Children Peru. Schließlich dürften auch in Industrieländern Minderjährige Ferienjobs annehmen, Rasen mähen oder die Zeitung austragen. In Bolivien betrachte man Kinder eben als ernst zu nehmende Mitglieder der Gesellschaft.

Brian ist es sehr ernst: Er will später einmal Lehrer werden, Rechnen hat er bei seiner Arbeit gelernt. Dann kann er vielleicht die Stiftung unterstützen, die jetzt ihn unterstützt.Sandra Weiss

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