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Reicht die Rente? Schon heute leben viele Ältere an der Armutsgrenze.

© imago images/Future Image

Soziale Ungleichheit wächst: Armut wird zum Risiko für die Demokratie 

Neue Indizien zeigen, dass die Einkommen in Deutschland durch Krieg und Krisen nochmals ungleicher verteilt sind. Wie äußert sich die sich festsetzende Armut im Alltag und was folgt daraus?

Die multiplen Krisen der vergangenen Jahre haben die soziale Spaltung in Deutschland weiter verschärft. Darauf deuten Umfrageergebnisse aus dem am Donnerstag vorgestellten Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung hin. Demnach hat sowohl die Ungleichheit der Einkommen als auch die Armutsquote während der Coronajahre weiter zugenommen. Darüber hinaus äußert die Hälfte der länger in Armut lebenden Menschen unter den Befragten eine Distanz gegenüber demokratischen Institutionen.

„Auch wenn die gesellschaftlichen Auswirkungen der vergangenen Krisen in ihrer Breite noch gar nicht abzuschätzen sind, deutet vieles darauf hin, dass sie die soziale Spaltung in Deutschland vertieft haben“, ordnen die Studienautoren Jan Brülle und Dorothee Spannagel ihre Befunde ein.

Armut ist lange gewachsen

Seit über zwanzig Jahren wächst die Ungleichheit der verfügbaren Haushaltseinkommen: Während der Gini-Koeffizient, der die Verteilung der Einkommen auf einer Skala von null (alle Menschen besitzen gleich viel) bis eins (eine Person vereint das gesamte Einkommen auf sich) misst, kurz vor der Jahrtausendwende bei 0,26 lag, befand er sich 2022 bei 0,3. Auch die Einkommen des ärmsten sowie reichsten Fünftel der Bevölkerung gehen auseinander. 2010 verdiente das einkommensstärkste Fünftel 4,2-mal so viel wie das einkommensschwächste. 2021 lag der Wert beim 4,7, 2022 bei 4,6.

Gleichzeitig ist die Armutsquote seit über einem Jahrzehnt gestiegen. Lebten 2010 noch 14,5 Prozent der Bevölkerung in Armut (verdienen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens) sind es 2022 bereits 16,7 Prozent. Besonders häufig betroffen sind Frauen, Ostdeutsche und Menschen mit Zuwanderungsgeschichte.

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Grundlage der Untersuchung sind repräsentative Befragungen von 800.000 Personen aus dem Mikrozensus (bis 2022) sowie rund 15.000 Haushalten aus dem Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) bis 2021. Da für Letzteres jährlich dieselben Haushalte interviewt werden, ermöglicht dies auch gruppenspezifische Aussagen, etwa über die Entwicklung der Lebensbedingungen.

Menschen fühlen sich gesellschaftlich weniger wertgeschätzt

Hier zeigt sich, dass auch in einem insgesamt wohlhabenden Land wie Deutschland Menschen in Armut mit spürbaren Entbehrungen im Alltag zu leben haben.

Bereits 2022, also im Jahr vor der großen Teuerungswelle, war neue Kleidung für 17 Prozent der Menschen, die „dauerhaft“ – also fünf oder mehr Jahre – unter der Armutsgrenze lebten, unerschwinglich. Fast zwei Drittel von ihnen verfügen dazu über keinerlei finanzielle Rücklagen. Spürbar wird die Ungleichheit auch in der Interaktion mit anderen Menschen: Jede vierte dauerhaft in Armut lebende Person berichtete, dass andere häufig zu ihr herabsehen würden. Dagegen äußerte die Hälfte der Einkommensstärksten, im Alltag Anerkennung und Wertschätzung zu erfahren.

„Wenn sich Menschen gesellschaftlich nicht mehr wertgeschätzt fühlen und das Vertrauen in das politische System verlieren, dann leidet darunter auch die Demokratie“, warnen Brülle und Spannagel. Tatsächlich zeigen die Befragungsdaten, dass Arme dreimal so häufig eine Distanz gegenüber demokratischen Institutionen äußerten wie Wohlhabende: Die Hälfte der dauerhaft in Armut Lebenden gab an, nur ein geringes Vertrauen in den Bundestag, Politiker oder Parteien zu haben.

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Die Bundesregierung hat infolge des russischen Angriffskrieges verschiedene Maßnahmen – darunter drei Entlastungspakete – erlassen, um die Folgen des Preisanstiegs abzuschwächen. Dass diese gewirkt und Haushalte mit niedrigen Einkommen entlastet haben, erkennen auch die Studienautoren an. Doch strukturell hätten sie nichts geändert. Auch die weiteren von der Ampel-Koalition geplanten Maßnahmen wie die Einführung der Kindergrundsicherung oder die Erhöhung von Mindestlohn und Bürgergeld gehen ihnen nicht weit genug.

Die Forschenden fordern eine Anhebung der Grundsicherung auf ein armutsfestes Niveau. Auf die Frage des Tagesspiegels nach der genauen Höhe verweisen sie auf Zahlen des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Dieser hat eine nötige Grundsicherung von etwas mehr als 800 Euro errechnet und liegt damit deutlich über den 563 Euro, auf die das Bürgergeld ab Januar steigen soll.

Um Armut trotz Arbeit zu reduzieren, empfehlen Brülle und Spannagel außerdem, den Mindestlohn stärker als geplant zu erhöhen. Ab Januar soll der Mindestlohn von 12 auf dann 12,41 Euro steigen. Aus Sicht der WSI-Forscher würde erst ein Mindestlohn von 14 Euro entscheidend dazu beitragen, Menschen vor Armut zu schützen, sagte Spannagel dem Tagesspiegel: „So wäre auch die EU-Mindestlohnrichtlinie umgesetzt.“

Zur Finanzierung dieser Maßnahmen empfehlen die Wissenschaftler Reiche und Superreiche stärker an Finanzierung des Gemeinwohls zu beteiligen. Etwa durch Anhebung des Spitzensteuersatzes, der Wiedereinführung einer progressiven Vermögenssteuer sowie einer Reform der Erbschaftssteuer.

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