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Tarifkonflikt bei der Bahn: Angst vor Chaos in den Betrieben

Arbeitgeber und Gewerkschaften fürchten das Ende der Tarifeinheit. Arbeitsrechtler hingegen streiten über Vor- und Nachteile der kleinen Spezialisten-Gewerkschaften und deren Rechte.

Berlin - Der Tarifkonflikt um die Lokführer der Bahn könnte weitreichende Folgen für das deutsche Tarifsystem haben. Arbeitgeber und Gewerkschaften befürchten das Ende der sogenannten Tarifeinheit und dadurch Chaos in den Betrieben. Die Bundesvereinigung der Arbeitgeber (BDA) ruft bereits vorsorglich die Politik um Hilfe an: „Der Gesetzgeber muss für die notwendige Rechtsklarheit sorgen, wenn er den Flächentarifvertrag in seiner gegenwärtigen Form erhalten will“, sagt Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt. Und Verdi-Chef Frank Bsirske betont das „hohe Gut“, das die Tarifeinheit, also das Prinzip „ein Unternehmen – ein Tarifvertrag“ darstelle. Wenn einzelne Beschäftigtengruppen in einem Unternehmen, wie eben die Lokführer bei der Bahn, ihre eigene Tarifpolitik betrieben, werde die Tarifeinheit untergraben nach dem Motto „jeder für sich und Gott für uns alle“, klagt Bsirske.

Der Grundsatz der Tarifeinheit, gewissermaßen ein ungeschriebenes Recht, wurde aufgestellt durch die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, am Ende durch das Bundesarbeitsgericht. Doch inzwischen verabschieden sich die Gerichte zunehmend davon, was BDA-Präsident Hundt anmerken lässt, „dass die von Spartengewerkschaften ausgehende Gefahr nicht überall in gleicher Weise beurteilt wird“. Oder überhaupt nicht mehr gesehen wird. Der Frankfurter Arbeitsrechtler Manfred Weiss. „Das Bundesarbeitsgericht wird die Tarifeinheit in absehbarer Zeit schlachten.“

Und zu Recht, wie der Juraprofessor argumentiert. Die Tarifeinheit sei eine „Ausgeburt des deutschen Ordnungssinns“. Also weg damit, um auf der Grundlage der grundgesetzlichen Koalitionsfreiheit Interessengruppen die Möglichkeit zu geben, sich zu organisieren und eben auch Tarifverträge abzuschließen. Eine gesetzliche Absicherung der Tarifeinheit, wie von Hundt gefordert, „hätte keinen Bestand vor der Verfassung“, sagte Weiss dem Tagesspiegel.

Dass die Tarifeinheit tatsächlich „geschlachtet“ wird, glaubt dagegen Otto Ernst Kempen, wie Weiss Juraprofessor in Frankfurt am Main, nicht. Die Bedenken bei Arbeitsrichtern seien vielmehr sehr ausgeprägt, „weil sie entdeckt haben, was es für Folgeprobleme gibt“. Zum Beispiel die unterschiedliche Laufzeit von Tarifverträgen: Der eine ist noch gültig, dann dürfen die Beschäftigten, die nach diesem bezahlt werden, nicht streiken; der andere ist schon ausgelaufen, dann sind in jenem Geltungsbereich Streiks möglich. Und was ist, wenn Arbeitnehmer von einer Gewerkschaft zur anderen wechseln, weil sie da mehr Geld kriegen und/oder streiken dürfen? Der Arbeitgeber müsste schließlich wissen, welcher Arbeitnehmer zu welcher Gewerkschaft gehört. Bislang darf er das seine Angestellten nicht einmal fragen.

Alles in allem wird es mehr Unruhe im Betrieb geben, wie ja in den vergangenen Wochen bei der Bahn zu beobachten war. Arbeitgeberpräsident Hundt sieht schon „ständige Tarifauseinandersetzungen und im schlimmsten Fall die Dauerbestreikung“ auf die deutschen Betriebe zukommen.

Diese Probleme sieht auch Professor Weiss und meint, man müsse „über die Begrenzung des Streikrechts diskutieren“. Oder, anders gesagt, die Frage der „Kampfparität“ neu stellen. Im konkreten Fall etwa, „ob die Bahn genügend Mittel hat, um einem Streik der Lokführer zu begegnen“. Weiss meint ja, weil jeder Streiktag die Kasse der Gewerkschaft der Lokführer erheblich belaste und aber auf der anderen Seite die Bahn auch einen längeren Streik durchaus „durchstehen“ könne. Alles in allem betont Weiss den Wert der Koalitionsfreiheit, nämlich „die Gründung von Konkurrenzgewerkschaften zuzulassen“.

Das sieht sein Kollege Kempen anders. Für ihn steht im Kern der Koalitionsfreiheit die „Aufhebung des Wettbewerbs der Arbeitnehmer untereinander, indem sie gemeinsam verhandeln“. Mit Spezialisten oder Spartengewerkschaften wie bei den Lokführern, Ärzten, Piloten und Fluglotsen „kommt die alte Konkurrenz wieder“. Deshalb habe die Tarifeinheit eine „international anerkannte, innere Berechtigung“, meint Kempen und verweist auf die Praxis in Ländern wie USA, England und Frankreich, wo nach dem Mehrheitsprinzip der Tarifvertrag gilt, der von der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern abgeschlossen wurde.

Dieses „demokratische Element der Abstimmung mit den Füßen“ könnte sich Kempen auch für Deutschland vorstellen, sofern die Tarifeinheit tatsächlich irgendwann vom Bundesarbeitsgericht gekippt wird. Für den Fall rät Weiss den Großgewerkschaften, durch eine bessere Betreuung und auf Beschäftigtengruppen zugeschnittene Tarifverträge das Aufkommen von Separatisten zu erschweren. Da gebe es erheblichen Nachholbedarf, meint Weiss: „Wie Verdi die Interessen der Ärzte abgebildet hat – darüber kann ich nur lachen.“ Der Marburger Bund aber nicht – und führt deshalb nun eigenständige Tarifverhandlungen.

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