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Wirtschaft: Geb. 1919

Gerhard Just

Als er im Krieg ein Auge verlor, wollte er seine Verlobung rückgängig machen. Einen Einäugigen wollte er der Geliebten nicht zumuten. Kurz vor der Hochzeit verlor er noch zwei Schneidezähne. Beim Eishockey im Sportpalast geschah das.

Dort, irgendwo im Schuhregal im Flur, lagen sie: die alten CCM-Stiefel von Gerhard Just. Schwere lederne Eishockeystiefel mit blanken, leicht gebogenen Kufen ohne Zacken. Sie stammten aus der Zeit vor dem Krieg, als er noch Hockeyspieler war, als er noch beide Augen besaß. Wohlgemerkt, er war eigentlich Feldhockeyspieler. Aber im Winter, wenn auf den kurzgeschnittenen, gewalzten Rasenplätzen der Schnee lag, spielten die Hockeyspieler vom Sportclub Brandenburg auf dem Eis. Den kleinen Ball aus Presskork ersetzten sie durch die schwarze Hartgummischeibe, ein zischendes Geschoss, das mit Geschwindigkeiten bis zu 180 Stundenkilometern übers Eis flog.

Sie spielten im legendären Schöneberger Sportpalast, keine zweihundert Meter von der Wohnung der jungen Familie Just in der Winterfeldtstraße entfernt. Jürgen, der kleine Sohn von Gerhard Just, kannte den Weg zum Schlittschuhlaufen: Über den Hinterhof neben dem Fernmeldeamt auf die Mülltonne geklettert, zack über den Zaun und rein in die nach dem Krieg oben offen gebliebene Halle. Wie der Vater mit den CCM-Stiefeln wollte auch er, der Sohn, auf Stahlkufen über das Eis jagen.

Von Anfang an nahm Gerhard Just seinen Sohn mit zum eigenen Sport wie auch zu den großen Wettkämpfen der Profis. Wie einmal im Mai 1956: Da versteckte er den Kleinen hinter seinem Rücken unterm langen Mantel. Im Gleichschritt schummelten sich Vater und Sohn mit einer einzigen Eintrittskarte durch die erste, dann durch die zweite, schließlich durch die dritte und vierte Kontrolle. Dann konnte Jürgen hervorkommen, und beide, Vater und Sohn, standen auf der riesigen Tribüne des Olympiastadions, ganz oben und blickten hinunter auf den in der Sonne leuchtenden Rasen. Der Fußball-Weltmeister Deutschland spielte gegen England. Das Stadion war bis auf den letzten Platz besetzt. Am Ende hatten zwar die Gäste aus England mit 3 : 1 gewonnen, aber Vater und Sohn, die Hockeyspieler, konnten es verwinden. Es war ja nur Fußball.

Lange bevor man den Sportpalast abriss und nach acht Jahren Schöneberger Exil zogen die Justs zurück in ihren angestammten Stadtteil: Endlich daheim in Neu-Westend, einem Viertel mit hohem Bildungsbürgeranteil, vor dem Krieg hatten hier viele Juden gewohnt. Gerhard Justs Eltern hatten hier bis in die ersten Kriegsjahre hinein eine Kneipe betrieben, die „Lindenwirtin“ in der Lindenallee. Leute vom Deutschlandfunk hatten hier ihr Feierabendbier getrunken. Dann war Gerhard Justs Vater gestorben, und die Kneipe musste verkauft werden. Ein Foto von Mutter Ida, der Lindenwirtin, blieb zurück. Es hängt noch heute an der Kneipenwand.

Gerhard Just diente als Offizier im Krieg, er kam mit einem zerstörten Auge von der Krim zurück. Nun, da er nur noch ein gesundes Auge besaß, meinte er, er müsse gleich seine Verlobung auflösen. Die Verlobte, Gerda, redete ihm den Unfug schnell aus. Die 56 gemeinsamen Ehejahre sollten ihr Recht geben.

Gerda und Gerhard Just passten nicht nur vom Vorn her gut zueinander, sie ergänzten sich auch sonst. Von der ersten Ausgabe an teilten sie sich nach dem Frühstück den Tagesspiegel. Er las zuerst den Sport- und den Berlinteil, sie den Fortsetzungsroman. Gerhard Just war Abonnent der ersten Stunde und las die Zeitung bis zu seinem Tod. Wenn ihm auch manche Wandlung des Blattes missfiel: Als die Todesanzeigen, die früher stets auf den gleichen Seiten erschienen waren, mal in jenem Teil der Zeitung abgedruckt wurden, mal in einem anderen, da störte sich Gerhard Just daran sehr. Und seitdem der Sport hinterm Wirtschaftsteil lag, musste er ihn lästigerweise immer von hinten lesen.

Zurück in Neu-Westend halfen die Justs bei der Wiederbelebung des Sportclubs Brandenburg. Ohne ihr Engagement gäbe es die Hockey- und die Tennisabteilung kaum mehr. Gemeinsam verbrachten sie mehr Zeit im Club und auf den dazugehörigen Sportplätzen als andere vor dem Fernseher. „Die Platzwanzen“ wurden sie genannt.

Gerda Just wurde mit ihrer Mannschaft Berliner Feldhockeymeister. Und Gerhard widmete sich, als er selbst nicht mehr Hockey spielen konnte, ganz der Jugendarbeit. Etlichen Jahrgängen hat er gezeigt, wie man eine kurze Ecke verwandelt. Er holte die Jungs direkt von der Straße und nahm sie mit in den Club. Dort drückte er ihnen schöne Hartholzschläger in die Hand; die selbstgeschnitzten Holzkrücken, die sie aus irgendeinem Gebüsch geschlagen hatten, konnten sie nun wegwerfen. Auch seinem Sohn hat Gerhard Just das Hockeyspielen beigebracht, und der später seinem. Alle trugen sie in der Familie den roten Brandenburg-Adler auf weißem Trikot.

Zu Gerhard Justs Beerdigung standen sie dann Schlange: die vielen ehemaligen Jugendspieler vom Sportclub Brandenburg. Selbst der Bestatter hatte bei ihm das Hockeyspielen gelernt, bei jenem Mann, der im Krieg sein rechtes Auge verloren hatte und später, im hohen Alter, noch sein rechtes Bein. Er hatte sich immer wieder hochgerappelt, nie aufgegeben, das hatte er beim Sport gelernt. Was bedeuteten schon die zwei Schneidezähne, die ihm ein hart geschossener Puck beim Eishockeyspielen im Sportpalast herausgeschlagen hatte? Das war kurz vor der Hochzeit geschehen, nachdem die Sache mit dem Auge und der Verlobung gerade noch glimpflich ausgegangen war.

Die alten CCM-Stiefel jedenfalls griff sich später der Sohn, heimlich und mit zerknülltem Zeitungspapier in der Schuhspitze, denn noch waren ihm die schweren Stiefel zu groß. Und seit der Sache mit Vaters Schneidezähnen war das Eishockeyspiel in der Familie Just eigentlich auch tabu. Stephan Reisner

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