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Wirtschaft: Geb. 1934

Hans Joachim Strauß

Einen Kuchen muss man fotografieren, sagte der Bäcker. Der wird doch aufgegessen, und dann ist er weg.

Da sitzt er noch einmal, Hans Jochim Strauß, lässig auf der Holzbank am Spreekieker in Charlottenburg. Hier kam er oft her, nicht nur zum Verschnaufen. Er stellte sein schwarz-violettes Herkules-Fahrrad ab, setzte sich, legte die Arme entspannt auf die Rückenlehne, schob die Füße in den neuen Turnschuhen vor und stellte seine alte Fujica ST801 griffbereit neben sich. Schiffe ziehen vorüber, Amseln hüpfen über die sandige Uferpromenade, eine Möwe landet auf dem Wasser vor dem Kraftwerk. Der Mann mit dem gestutzten Bart und der Baskenmütze zückt seine Kamera, hebt sie vors Auge, hält die Luft an, und, klack, die Welt ist um ein Bild ihrer selbst reicher, eine eingefrorene 1/125 Sekunde.

Hans Joachim Strauß war mal Bäcker, mit 58 Jahren wegen zunehmender Atemnot nach Bad Reichenhall zur Kur geschickt, Antrag auf Berufsunfähigkeit abgelehnt, mit 62 Jahren und verringertem Lungenvolumen aus der Arbeitslosigkeit in die Rente entlassen. Zeitlebens gerackert, wenig Schlaf, unzählige Brote, Brötchen, Bienenstiche und Streuselkuchen gebacken, verheiratet, eine Familie mit zwei Söhnen, drei Enkeln, eine Modelleisenbahn im Zimmer der Söhne, an der Decke über Zugseile befestigt, begeisterter Hobbyfotograf, zwischendurch ganz locker: „Ich werde eh nicht alt“ oder: „Wenn ich nicht mehr bin, schmeißt ihr bestimmt gleich alles auf den Müll“.

Aber nein, die Dinge stehen noch an ihrem Platz, die Kamera, die Leinwand, die 100 Dia-Kästen, die vielen Fotoalben mit dem eigenwilligen Sortiersystem, den freigehaltenen Plätzen für neue Blumen-, Vögel-, Stadt- und Personenmotive, das ganze abgelichtete und in Lederimitatbände geklebte Leben.

Seine Mutter starb, da war er elf. Im Haus der Tante, die den Elfjährigen und seine Schwester nun aufnahm, waltete Strenge. Teller leer essen, und zur Toilette wird vorerst nicht gegangen, vom Essen soll ja noch was bleiben. So jedenfalls hat er es später seinem Sohn erzählt. Fotobeweise gibt es nicht.

In Waren an der Müritz wurde er Bäcker, dann zog er nach Berlin, Neu-Westend. Das Mädchen, bei dem er immer seine Teewurst kaufte, wurde seine Frau. Im Auto verfolgte er sie vom Supermarkt nach Hause. Sie fuhr Bus, und vor der Haustür sprach er sie an.

Die Faszination für die Fotografie hatte er von einem Onkel aus Westdeutschland übernommen, einem deutschen Ed Wood. Der drehte mit seiner Super-8-Kamera kleine Science-Fiction-Filme im Dorf, Geschichten von einfallenden Außerirdischen, Dorfbewohner spielten mit.

Als das Geld endlich reichte, kaufte sich Hans Joachim Strauß seine erste Spiegelreflex-Kamera, eine Edixa. 325 Mark kostete sie damals, in den Fünfzigern, viel Geld für einen, der um zwei Uhr in der Früh aufstand und seine Hände in große Mehlschüsseln vergrub. Nach Feierabend konnte er nun die Dinge festhalten, Erinnerungen, außergewöhnliche Anblicke. Das See–Idyll mit dem Segelboot in Schwarzweiß haben sie sogar in der Zeitung abgedruckt.

Strauß fotografierte, was er sah, hielt fest, wovon er glaubte, es festhalten zu müssen. Zum Beispiel die Kuchen und dicken Sahne-Creme-Torten, die er zu Hause in Charlottenburg buk. So ein Kuchen ist schnell aufgegessen, und dann ist er weg. Also festhalten, 50-Millimeter-Objektiv, 200 ASA-Farbfilm, Blende einstellen, Belichtungszeit, Schärfe – und klack. Die vom Blitzschlag getroffene Platane auf der Straße, heranzoomen, bevor sie von den Straßenreinigern beseitigt wird – klack. Eine alte, bauchige Schnapsflasche auf dem Fensterbrett, lückenlos beklebt mit Reißzwecken. Ins Licht gesetzt, Blickwinkel ausgesucht, Focus eingestellt, Atem angehalten – klack. Das gleiche noch mal im Gegenlicht, Ausschnitt verkleinert, Blende zu – klack. Bildtitel: „Berliner Kaktusflasche“.

Wenn einer schließlich auf seiner Modelleisenbahnplatte Szenen aus der großen Welt nachbaut, um sie hier, in perfekter Miniatur, zu fotografieren, wird es philosophisch. Besessene Arbeit am Detail, die erste Wirklichkeit wird um eine zweite, vollkommene ergänzt, und das Foto wird zum Abbild des Abbildes. Bunte Modellhäuser, winzige, handbemalte Figuren mit Knitterschürze und blauen Tupfaugen, eine Wäscherin auf grünem Kunstrasen, eine alte Dampflokomotive, die in den Bahnhof rauscht – und wieder macht es klack.

Morgen, am Sonnabend, wäre Hans Joachim Strauß 69 Jahre alt geworden. Die Familie wäre zu Besuch gekommen, es hätte mindestens ein Blech Bienenstich gegeben. Die drückenden Temperaturen sind wieder etwas runter. Für ihn, der nur noch schwer atmen konnte, weil ihm der Mehlstaub die Lungen verklebt hat, war die Hitze schwer erträglich.

Die Lücken in den Alben werden bleiben, obwohl die Söhne Vaters Hobby übernommen haben. Aber sie sortieren anders: Nicht nach Motiven, sondern chronologisch.

Strauß starb am 30. Juli. Ihm blieb die Luft weg. Er stand am Fenster zur Straße und sah noch den Notarztwagen kommen.

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