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Wirtschaft: geb. 1948

Rüdiger Kalthofen

Rüdiger Kalthofen

Als Sechsjähriger sieht Rüdiger Kalthofen zum ersten Mal das Land, dessen Sprache er spricht. Er steht in Hagen auf der Straße und wundert sich: Die Luft ist kräftiger hier, die Häuser grau und im Winter fällt Schnee. Die Welt steht auf dem Kopf.

In Hagen sind die Kalthofens nur kurz, nur kurz sind sie in Deutschland. Der Vater muss, nachdem hier der Krieg vorbei ist, ein paar Dinge klären. Danach zieht die sechsköpfigen Familie zurück nach Südamerika. Sechs Wochen dauert die Überfahrt nach Arica in Chile. Von dort fährt ein Zug weiter nach Bolivien, nach La Paz. Die Stadt liegt 3600 Meter hoch in den Anden. Am Horizont ragt der weiße Gipfel des Illimani in den blauen Himmel. Ein Bild, das Rüdiger Kalthofen nicht vergisst. Hier ist er zur Welt gekommen, hier verbringt er seine Kindheit und die frühe Jugend.

Als Sohn eines deutschen Lehrers am „Colegio Alemán“ wächst er zweisprachig auf. Er genießt die Vorzüge eines weiß getünchten Hauses mit ummauertem Garten und spielt doch am liebsten mit den anderen Kindern auf der Straße Fußball. Und er haut seinen kleinen Bruder raus, wenn es sein muss. Den ersten Teil seines Lebens verbringt er fern der Nöte deutscher Nachkriegsjahre. „La Paz“ heißt „Der Frieden“. 1962 kehrt die Familie endgültig nach Deutschland zurück.

Der Neuanfang im Rheinland fällt dem Vierzehnjährigen nicht leicht. In der Schule nennen sie ihn den „Bolivianer“. Er sieht aus wie sie, aber sie behandeln ihn als einen Fremden. Er bringt die Schule zu Ende und beginnt auf Wunsch seines Vaters eine Lehre als Süßmoster. Ein Onkel in Dresden ist kinderlos und besitzt eine Saftfabrik, Rüdiger könnte die Firma eines Tages übernehmen, heißt es. Sein Vater setzt auf ein schnelles Ende der DDR.

Rüdiger zieht in einen Ausbildungsbetrieb. Eines Tages platzt dort das Ventil eines Behälters mit kochendem Fruchtfleischkonzentrat, die heiße Flüssigkeit schießt dem Ahnungslosen über die Beine, die Haut verbrennt und bleibt schwarz fürs Leben. Auch die Venen werden verletzt, als Folge drohen Thrombosen, gegen die Rüdiger Kalthofen sein Leben lang Blutverdünnungsmittel einnehmen muss. Und dann fährt er eines Morgens nach einem Besuch der Eltern übermüdet gegen einen Betonpfeiler. Seine Oberlippe platzt und wächst etwas schief zusammen. Das Auto ist Schrott.

Zu Beginn der Siebziger verschlägt es ihn nach Berlin. Vier Jahre lang arbeitet er in der aggressiven, heißen Luft einer Essenzfabrik, bis seine gereizte Haut nicht mehr mitmacht. Also wird er Feinmechaniker und Industriemeister.

Dann endlich, in einem südamerikanischen Restaurant, trifft Rüdiger Kalthofen einmal das Glück. Er lernt Elizabeth kennen, eine junge Kolumbianerin. Wie Rüdigers Vater hat die Neugierde sie auf die andere Seite der Welt gelockt. Sie kennt viele Kolumbianer in Berlin, in deren Gesellschaft Rüdiger sich wohl fühlt. Sie heiraten, und eineinhalb Jahre später kommt Sohn André zur Welt, zwei Jahre darauf folgt Tochter Isabella. Die Mutter liebt ihre Kinder abgöttisch, kost und drückt sie, backt ihnen Empanadas und mixt Avocadocreme mit Zitrone. Den Diminutiv beherrscht sie wie keine andere. Als Ausdruck ihres Temperaments fliegen bei Meinungsverschiedenheiten gern mal ein paar Teller durch die Küche, ganz normal.

Eines Tages setzen bei ihr die Kopfschmerzen ein. Der Sohn ist gerade zwölf, die Tochter elf, als Rüdiger Kalthofen seine Frau ins Krankenhaus bringt. Neun lange Monate bleibt sie dort, er besucht sie jeden Tag nach der Arbeit. Die Ärzte sind ratlos, Experten werden eingeflogen, eine seltene Form der Tuberkulose, die sich an eine Hirnhautentzündung knüpft. Nach neun Monaten der Ungewissheit sind die Kinder Halbwaisen und Rüdiger Kalthofen Witwer. Sein Arbeitgeber geht Pleite, er wird arbeitslos.

Aber er gibt nicht auf, Rüdiger Kalthofen kämpft, er findet eine neue Arbeit. Die kolumbianischen Freunde helfen. Täglich fährt er nun quer durch Berlin, abends kommt er todmüde zurück. Die Augen fallen ihm beim Essen zu, aber ein Umzug kommt nicht in Frage, den Kindern soll ihr Umfeld erhalten bleiben. Im Wohnzimmer hängen bunte Teppiche und kolumbianische Macheten an der Wand, außerdem ein großes Foto von La Paz mit den Anden im Hintergrund. Die drei durchleben eine Zeit im familiären Koma, die sich dunkel in ihr Gedächtnis schreibt.

Im Dezember 2001 reist Rüdiger Kalthofen nach vierzig Jahren noch einmal nach La Paz. Die Höhenluft macht ihm zu schaffen, Asthma plagt ihn, das Herz muss schwer arbeiten bei den Temperaturen. La Paz hat sich verändert, Rüdiger Kalthofen kehrt ein wenig enttäuscht zurück.

Zu Hause in Berlin verschlechtert sich sein Gesundheitszustand. Er überlegt, Frührente zu beantragen und rechnet hin und her. Ein Jahr muss er noch durchhalten, dann steht seine Rente besser.

Einmal besucht die Familie noch gemeinsam ein Fest der kolumbianischen Freunde. Es ist August, es ist heiß, im Hintergrund läuft wie immer Salsa. Rüdiger Kalthofen hat Durst, er fühlt sich etwas unwohl. Zwei Tage später liegt er auf dem Boden seines Büros, das Asthma-Spray noch in der Hand. Ein Notarztteam reanimiert ihn, er kommt auf die Intensivstation. Schon am ersten Tag teilen die Ärzte dem Sohn mit, dass er sich auf das Schlimmste gefasst machen muss. Eine Woche Krankenhaus, eine Woche Koma, dann stirbt Rüdiger Kalthofen.

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