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Wirtschaft: Jürgen Räuschel

Geb. 1936

Was er wollte: Wärme, Kibbuz alle Tage, Fische im See wie auf dem Teller. Manche leben von der Politik. Manche für die Politik. Das ist nicht immer leicht zu unterscheiden – bis es zur Rente kommt. Jürgen Räuschel lebte von einer sehr kleinen Rente. Was ihn nicht sehr verdross, obwohl er aus einer wohlhabenden Familie stammte. Der Reichtum seinerzeit war kein rechtmäßiger, dessen war er sich zeitlebens bewusst, denn die Leinweberei des Vaters war ursprünglich im Besitz einer jüdischen Familie gewesen.

Der Vater starb im Krieg. Die Weberei ging in den fünfziger Jahren in Konkurs, und Jürgen Räuschel, nunmehr frei von der Verantwortung, ein Erbe antreten zu müssen, das er nicht wollte, erprobte sich in vielen Berufen, bevor er zum Journalismus fand, zum politischen Journalismus.

Warum Rinder mit Tiermehl gefüttert wurden, jedes Frühstücksei eine pharmazeutische Minibombe war, jeder Tiertransport an Tierquälerei grenzte, und die Existenz von Bananenrepubliken durchaus auch dem deutschen Verbraucher anzulasten war, das alles nachhaltig zu erörtern, war und ist dem Leser nach Meinung der meisten Chefredakteure beim Frühstück nicht zuzumuten. Jürgen Räuschel sah das anders.

Nach den Lehrjahren beim Verbrauchermagazin „DM“ gründete er, auf genossenschaftlicher Basis, die Zeitschrift „Ökotest“. Ein politischer Erfolg – und ein wirtschaftlicher. Er kam ja vom Fach, konnte Bilanzen lesen, kannte den Breaking Point, wusste wann ein Projekt rentabel wurde. Und er kannte die Dynamik, die aus Erfolg entsteht, und die ihn wiederum an den Rand und schließlich ganz aus dem Blatt drängte.

Solidarität lässt sich nur schwer leben, im Geschäftsleben wie privat. Auch das ein Breaking Point. Enttäuscht von Kollegen. Enttäuscht von Frauen. Auch selbstverschuldet, natürlich. Keine Liebe hält dem stand, dem Anspruch, ein Leben nur für andere zu führen.

Was er für sich wollte? Wärme, „eine liebe Frau, die alles macht; Kibbuz alle Tage, soll heißen gemeinschaftliche glückliche Arbeit; Fische, im See wie auf dem Teller, und keine Mücken“.

Träume sind ferne Inseln, Politik ist konkret. Genua, 20. Juli 2001, Gipfel der größten Industrienationen. Ein militanter Demonstrant wird durch den Kopfschuss eines Carabinieri getötet. Notwehr, hieß es von offizieller Seite zunächst. Die Auswertung privater Videoaufnahmen ergab, dass der Polizist unter Rufen wie „Ich leg’ euch alle um, ihr Kommunistenschweine“ auf verschiedene Personen zielte. Der Demonstrant hatte keine Anstalten gemacht, sich zu nähern.

Das Konterfei Giulianis war Emblem der Berliner Korrespondenz, Räuschels letztem Projekt. Ein Newsletter, von ihm allein verantwortet: Faktenfilter und Schlagwortsieb zugleich. Was ist wichtig zu wissen in der globalen Informationsschwemme; welche Bücher sind erschienen, die andernorts totgeschwiegen werden; wo finden interessante Konferenzen, Symposien statt.

Er suchte einen Financier für das Blatt, publizistische Verbündete bei Attac, wollte der Jugend näher kommen und landete doch wieder nur im Kreis der ihm Bekannten, ihm Vertrauenden.

Diese letzten Jahre lebte er in einer Parterrewohnung, Prenzlauer Berg, eingemauert von Büchern und Materialien, spartanisch, ganz auf die Arbeit fokussiert. 3000 Abonnenten hätten genügt, das Unternehmen rentabel zu machen. Sie fanden sich nicht. Also hat er seine Ansprüche reduziert. Er hoffte auf 200, 300 Leser, die ihrerseits wieder 200, 300 in Kenntnis setzen würden.

Natürlich wusste er, dass er auf verlorenem Posten stand. Aber das muss man ja nicht stillschweigend tun.

Jürgen Räuschel starb am Schreibtisch. Vor sich die Losung des Konfuzius: „Wähle einen Beruf, den du liebst, und du brauchst niemals in deinem Leben zu arbeiten.“

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