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Wirtschaft: Reiner Lemoine

(Geb. 1949)||„Scheiß auf den Kommerz. Lass uns was Richtiges machen.“

„Scheiß auf den Kommerz. Lass uns was Richtiges machen.“ Die Sonne schien auf den Sandstrand in Portugal. Er saß im Schneidersitz und spielte Go, acht Stunden lang. Spürte die Hitze nicht, den Durst, den Hunger. Für eine Denkaufgabe konnte Reiner Lemoine alles vergessen.

In der Schule war es ihm unmöglich, Dinge auswendig zu lernen. Energieverschwendung! Das Pauken war ihm zuwider, zwei Mal ist er deshalb sitzen geblieben. Sein Ego nahm daran keinen Schaden: „Wenn man klug ist, kann man sich alles selbst erarbeiten.“ Er vertraute auf seinen kritischen Geist.

In der Katholischen Studentengemeinde nannten sie ihn „Professor Gammler“, Gammler wegen der langen Haare, die ihn mit seiner Brille ein wenig wie John Lennon aussehen ließen. Professor wegen der kühnen Wortbeiträge, die nicht selten die echten akademischen Würdenträger auf die Palme brachten. Angst vor Autoritäten kannte er nicht. Der Muff von tausend Jahren, warum sich an so etwas abrackern? Über die Zukunft sollte man nachzudenken. Luft- und Raumfahrt studierte er und gründete noch als Student mit Gleichgesinnten eine Firma, „Wuseltronik“. Ein „sozialistisches Ingenieurskollektiv“ in Kreuzberg.

Sie bauten Messgeräte mit so schönen Namen wie „Wumm“ oder „Wuwickel“. Institutionen wie die Bundeswehr belieferten sie aus Prinzip nicht, und in den Pausen spielten sie Tischtennis oder Schlagzeug. Es landete wenig Geld in der Kollektiv-Kasse. Für Lemoine war das egal, Profitmacherei verachtete er. Auch wenn deshalb seine Frau, Ärztin von Beruf, viele Jahre fast allein für den Unterhalt der Familie mit zwei Kindern sorgen musste, und es gelegentlich Streit gab. Die Sache, die Idee dahinter, das musste für ihn stimmen. Er zog an seiner Gauloise und sagte: „Scheiß auf den Kommerz. Lass uns was Richtiges machen.“

Was Richtiges, das war entweder: ein Stück Technik verbessern. Oder: die Welt als Ganzes optimieren. Mit Technik natürlich. Autarke Stromversorgung zum Beispiel, statt der Abhängigkeit von den Multis – würde das nicht auch bedeuten: weniger Kriege um Rohstoffe?

Der Sonne als unerschöpfliche Energiequelle – warum zapfte man die nicht an? Reiner Lemoine gründete wieder eine Firma. Erst „Solon“ in Berlin, und dann, 1999 mit drei Partnern und 60 000 Mark Startkapital „Q-Cells“: Produktion von Hochleistungssolarzellen, auf einem Stück Brachland in Sachsen-Anhalt. Diesmal holte er sich jemanden dazu, der vom Kapitalismus, den er selbst so verachtete, etwas verstand: einen Mann von McKinsey. Die beiden mochten sich sofort.

Es war die perfekte Vermählung von Idee und Kapital zum richtigen Zeitpunkt. Plötzlich wollte jeder unabhängig sein vom russischen Öl. Geld vom Staat gab es dank Rot-Grün zu jedem Kilowatt Solarstrom dazu. Nach sechs Jahren wurde Lemoine zum „Entrepreneur des Jahres“ gekürt. Jetzt verdiente er die Brötchen.

Die Börse, das Business, der Erfolg. Er hatte es so gewollt – für die Sache. Dennoch war Q-Cells am Ende nicht mehr ganz seine Welt. Auf den Gängen der Firma schwirrten mehr als 1000 Mitarbeiter umher und viele geschliffene Manager, Goldgräber des neuen Zeitalters. Reiner Lemoine stand mit seinen ausgebleichten Cordhosen dazwischen wie ein freundlich lächelnder Fremder vom anderen Stern.

Mit dem Geld, das er durch den Börsengang verdient hatte, bezahlte er seine Visionärs-Schulden und gründete eine Stiftung für Nachwuchswissenschaftler, die sich um die Nutzung der neuen Energien verdient machten.

Seit Jahren lebte er mit der Diagnose Hirntumor. Er machte keine große Sache daraus. Er mochte sein Leben, wie es war. Er rauchte und arbeitete weiter, diskutierte über Energie, Völkerwanderung, Philosophie, fuhr schnelle Autos und hörte die Rolling Stones.

Lässig und ohne Verbissenheit hatte er der Menschheit einen Schubs gegeben. Genauso verließ er sie am Ende. Wohin er sich aufmachte? „Wende dich der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich“, sagt das chinesische Sprichwort.

Kirsten Wenzel

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