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Wirtschaft: Ursula Thiel-Schütze

Geb. 1941

Fluxus-Zeit, Kinderladenzeit, keine Grenzen in der Mauerstadt. Die Passanten auf dem Ku’damm blickten mit offenen Mäulern hinterher: Ein Mercedes 600 voll mit Gorillas fuhr den Boulevard auf und ab. Am Steuer der Fluxuskünstler Wolf Vostell, hinter den Masken mit dabei Ursula Thiel-Schütze und ihre drei Söhne. Fluxus-Zeit: Leben ist Kunst, und Kunst ist Leben, Berlin, die große ummauerte Spielwiese, war der rechte Ort für solche Happenings.

Und nicht wenige davon fanden im Haus von Ursula Thiel-Schütze statt. Kein Salon, nur eine offene Tür für Künstler. Da waren die jungen Wilden, deren Konkretheit im Fleischlichen manchen Vater sein Kind ermahnen ließ, ja nicht den Schulfreund zu Hause zu besuchen. Und da war der Altmeister: Alexander Bertelson, Schüler von Lovis Corinth, der in der Dresdner Bombennacht all seine Bilder verloren hatte, sich zurückzog in eine alte Dahlemer Villa und spät, mit 77, noch einmal zu malen begann.

Fluxus, das Leben immer im Wandel halten. Das war ihr nicht in die Wiege gelegt. Sie kam aus Fulda. Eine Bischofsstadt, in der nach dem Krieg die Vorkriegsmoral galt. Miefig – wären da nicht die amerikanischen Soldaten gewesen, einer insbesondere, ein Pilot, der Herzschleifen für sie flog. Was ihr eine Tracht Prügel einbrachte. Dennoch ging sie aus, mit wem sie wollte. Und ließ sich ein Auto schenken von einem Verehrer, gab es aber wieder zurück, als sie den nächsten fand. Und dann das große Los – die Lehre als Reisebürokauffrau. Als erste Frau in Hessen überhaupt konnte sie jene unberührten Urlaubsziele aufspüren, die später dem Ansturm der Pauschaltouristen erlagen.

Bevor sie im Beruf zur Ruhe kam, heiratete sie. Drei Söhne. Der Mann, viel älter als sie, Vertriebsleiter eines Textilkonzerns, ein Reisender eigener Art, mit dem sie umherzog, bis er nahe Gütersloh seine berufliche Endstation fand.

Während sie in Berlin blieb. Eine Wochenendehe. Drei Kinder. Ein Halbtagsjob an der Uni. Und das Abitur machte sie auch noch nach: im gleichen Jahr wie ihr zweiter Sohn.

Wie das ging? Die Kinder konnten tun und lassen, was sie wollten. Kinderladenzeit. Die absolute Freiheit. Hausarbeiten kurz vor der Schule. 101 Nächte auswärts geschlafen – Rekord für einen Achtjährigen. Eine enorm lange Leine. Und das Komische: es lief.

Und es hätte immer so weiter laufen können. Da erkrankte der Mann an Krebs. Sie beendete das Bohemeleben von einem Tag auf den anderen, pflegte ihn fast ein Jahr, trauerte ein Jahr.

Und wieder wandelte sich ihr Leben. Beim Bergsteigen kam der Freund ihres ältesten Sohnes ums Leben. Bei der Beerdigung traf sie dessen Vater. Ein älterer Mann, und ein untröstlich Trauernder, dem sie neuen Halt gab. Sie reisten gemeinsam in der Welt umher, kein Vagabundieren mehr, bestes Dahlemer Bürgertum auf Exkursion. Fünf schöne gemeinsame Jahre. Dann eine Routineuntersuchung: Lungentest. Eine leichte Betäubung, aus der er nicht mehr erwachte.

Sie war gefasst, war stark, und fand wieder ein neues Leben. Sie zog sich ganz zurück. Und entdeckte die Liebe zum Orient, Syrien, Oman, auf den Spuren von Else Lasker-Schüler: „Hisst der Mondturm die Dunkelheit – …O, wie mich leise eine süße Weise betönt.“

Keine Männer mehr. „Das Thema ist durch.“ Sie hatte sich ihren Teil genommen und sorgte sich nur noch um sich und ihre Familie. Es hätte so weiter gehen können.

Dann nahm sich ihr ältester Sohn, der mit der absoluten Freiheit doch nicht so ganz zurechtgekommen war, das Leben.

Und diesmal brach sie zusammen. Starb ihm hinterher, wollte es zumindest in der ersten Woche. Sie hat nichts mehr gegessen, nichts mehr getrunken. Kam auf die Intensivstation, und raffte sich dennoch wieder auf, weil sie der Beisetzung noch beiwohnen wollte.

Dann die Hochzeit des zweitältesten Sohnes. Und noch ein gemeinsamer Urlaub mit dem Jüngsten. Und dann wieder Krankenhaus.

Die Diagnose war einfach, auch wenn die Ärzte sie so nicht gestellt haben: Ihr Herz war gebrochen. Ein Gerinnsel nach dem anderen überschwemmte den Körper. In wenigen Wochen alterte sie um Jahre.

Aber sie kam noch einmal zurück: „Ich geh’ nicht, ohne tschüss zu sagen.“ Und auch nicht, ohne zu hören, was die Söhne ihr noch hatten sagen wollen.

Dann war es soweit: Man riecht es, wenn der Tod ins Zimmer getreten ist, und ein Mensch an sein Ende kommt: „Ich bin am Ziel meines Herzens angelangt.“

Nur eins fehlte noch, das fanden die Söhne dann für sie, im Urnenregal im Hinterzimmer des Bestattungsinstitutes.

Hässliche Gefäße. Braungraugeflammtes Blech, lieblose Serienfabrikate.

Aber unten, auf dem Boden stand eine vergessene Urne, kugelrund auf goldenem Sockel, kobaltblau die Farbe, kleine goldene Sterne darauf gemalt. Für Kinder eigentlich, oder für jene, die eine Sehnsucht nach ewigem Wandel in sich tragen: „Fliegen die Sterne auf: Goldene Vögel.“

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