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Wirtschaft: Uta Schulz

(Geb. 1941)||Zwischen den hohen Gräsern wiegte sich ein Segelschiff.

Zwischen den hohen Gräsern wiegte sich ein Segelschiff. Ohne die Großmutter, davon war Uta Schulz überzeugt, wäre ihre Kindheit recht trostlos verlaufen. Auf ihren Knien saß sie, als der Vater starb und beinahe zeitgleich die kleine Schwester geboren wurde. Da war Uta zwei Jahre alt. Auch später hatte die Mutter kaum Zeit für ihre Große. Sie war beschäftigt mit der Angst vor dem Bombenregen über Berlin und vor russischen Soldaten, mit neuen Lieben und zwei neuen Schwangerschaften, mit ihrer Arbeit zunächst als Journalistin, dann als Strickerin.

Acht Jahre war Uta alt, als die Großmutter starb. Doch das blond bezopfte Mädchen mit dem schmalen Gesicht fühlte sich stark genug, das Erbe der alten Dame anzutreten.

Sie schnallte sich einen schweren Rucksack auf den Rücken, gefüllt mit Brot und Getränken, Handtüchern, Pflastern und Bilderbüchern, nahm die Geschwister an die Hand und setzte sich mit ihnen in die S-Bahn. Meistens fuhr sie mit ihnen ins Grüne. Und die Kleinen lernten, dass das Leben schön und lustig war, dass man Abenteuer suchen und nicht meiden sollte.

Die Frage nach der Berufswahl hat sich Uta nie gestellt. Kindergärtnerin wollte sie werden, was denn sonst. Zweifel hegten allein die Nonnen in Süddeutschland, die ihr die Ausbildung und eine Wohnstätte boten. Mit welcher Geschicklichkeit Uta malte und zeichnete, wie mühelos sie ein Stück Stoff in ein Tier verwandelte, und wie gut sie Klavier spielen konnte! Ob Uta nicht unterfordert wäre als Kindergärtnerin und lieber Kunstlehrerin werden wolle?

Dazu fehlten Uta das Geld und der Grund. Warum den Kleinsten, die doch so empfänglich und dankbar waren, ihre Fähigkeiten vorenthalten?

Und doch war Uta unglücklich an ihrem ersten Arbeitsplatz, einem Kindergarten in Baden-Württemberg. Für den Malunterricht wurden Schablonen verteilt, so dass auf allen Blättern wie eine Serie von Klonen die ewiggleichen Entchen und Häschen prangten. Der pädagogische Ehrgeiz vieler Kolleginnen schien sich in der Töpfchendressur zu erschöpfen. Uta versuchte es mit einem Segelflugzeug-Schein, aber auch hoch über der Erde fand sie nicht das Glück, nach dem sie suchte.

Bis es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. Wofür hatte sie einen Mann mit Tischlertalent geheiratet? Sie ging mit ihm zurück nach Berlin und bat ihn, einen Garderobenschrank für viele kleine Kinderschuhe zu zimmern.

Im Erdgeschoss einer alten Villa in Steglitz eröffnete Uta ihren „Kinderkreisel“. Entgegen der Tiefkühl-Mode der achtziger Jahre löffelten die Kinder hier frisches Essen, Uta tanzte, malte und musizierte, ging mit den Kleinen ins Schwimmbad und ins Theater. Zwischen den hohen Gräsern im Garten wiegte sich ein echtes Segelschiff.

Einmal im Monat mussten Väter und Mütter mit Werkzeugen, Blumenzwiebeln und Farbtöpfen anrücken und helfen, den „Kinderkreisel“ in Schwung zu halten. Manchmal bat sie auch zu Sonderschichten, etwa, als sie ein Pfefferkuchenhaus bauen wollte. Nicht so eins, das auf der Fensterbank vertrocknet. Ein bewohnbares!

Ein ehemaliges Kind, inzwischen 33 Jahre alt, erinnert sich an die Begehung der süßen Räume, als wäre es gestern gewesen. Fensterbretter aus Zuckerguss, Dachziegel aus Keksen, Türrahmen aus Smarties.

Das alles war toll, aber geliebt wurde Uta, weil sie nie diesen Hundehalter-Tonfall benutzte, weil sie den größten Spaß hatte von allen. Darum tanzten die Kinder ihr nicht auf der Nase herum, darum hielten sie Regeln ein. Sie war wie eine große Schwester, der man gefallen wollte. Sie war stark.

Und musste es sein. Sie hatte inzwischen zwei eigene Kinder, lebte getrennt von ihrem Mann, erzog und finanzierte die beiden allein. Ihr kleines Einkommen besserte sie auf mit dem Verkauf von selbst genähten Teddys und Puppen. Freunde und Verwandte hätten ihr gerne öfter geholfen, und sei es nur, sie mit dem Auto vom Bahnhof abzuholen. Doch Uta, gewöhnt an die Rolle der Gebenden, konnte schwer nehmen.

So sehr sie andere verwöhnte, so wenig Bequemlichkeit beanspruchte sie für sich. In den Ferien ging sie wandern oder machte große Radtouren, etwa durch Kasachstan.

Als feststand, dass ihr Brustkrebs unheilbar war, kannte Uta nur eine Sorge: Die Kinder sollten sich für ihre Beerdigung nicht verschulden müssen. In etlichen Bestattungsinstituten fragte sie nach, bis sie die billigste Variante gefunden hatte.

Viele Freunde und ehemalige Kindergartenkinder kamen an ihr Bett, um sich zu verabschieden. „Ach“, murmelte sie traurig, als Willy zur Tür hereinkam, ein Ehemaliger mit Down-Syndrom. „Es tut mir so leid, dass ich nicht zu deinem achtzehnten Geburtstag kommen konnte.“ – „Ja“, antwortete Willy und atmete tief durch. „Und weißt Du was, Uta? Da habe ich Sekt getrunken!“ In den Augen der Todkranken begann es zu funkeln wie in denen des jungen Mannes. „Nee, Willy, das musst du mir genauer erzählen!“

Einen einzigen Wunsch hatte Uta für sich: Ohne Morphium und trotzdem schmerzfrei zu sterben. Er ging in Erfüllung.

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