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Wirtschaft: Verbitterung und Entsetzen auf beiden Seiten

Arbeitsminister Blüm wegen Rentenfinanzen in der KritikVON TOM WEINGÄRTNER BERLIN.Die Anhebung der Rentenbeiträge auf 21 Prozent ist für die Wirtschaft ein Schock.

Arbeitsminister Blüm wegen Rentenfinanzen in der KritikVON TOM WEINGÄRTNER

BERLIN.Die Anhebung der Rentenbeiträge auf 21 Prozent ist für die Wirtschaft ein Schock.Daß die Rentenversicherer nicht mit 20,3 Prozent der Löhne und Gehälter auskommen, die sie jetzt bekommen, war auch den Arbeitgebern klar.Bei ihrer Bundesvereinigung (BDA) war man bislang aber von einem Anstieg auf 20,6 oder 20,8 Prozent ausgegangen.Das hatte auch Arbeitsminister Norbert Blüm bislang signalisiert.Die überraschend deutliche Anhebung kann deshalb nur bedeuten, daß man im Arbeitsministerium den Überblick über die Entwicklung der Rentenfinanzen verloren oder sie in der Öffentlichkeit anders dargestellt hat - um ohne Eingriffe in das Leistungsrecht über das Wahljahr zu kommen. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt hat in seiner Reaktion auf die schlechte Nachricht kein Blatt vor den Mund genommen.Die Beitragsanhebung sei ein "verheerendes Signal für Wachstum und Beschäftigung", ein "Anschlag auf die Arbeitsplätze".Statt die Sozialbeiträge unter 40 Prozent zu senken, was die Koalition seit Jahren verspricht, werden sie auf über 42 Prozent angehoben.Verbittert sind die Arbeitgeber darüber, daß sie selbst mit den Gewerkschaften moderate Abschlüsse vereinbart haben, die Politik diesen Zugewinn an Wettbewerbsfähigkeit aber wieder zunichte macht.Pausenlos redeten die Politiker über die Notwendigkeit, die Lohnkosten zu senken, praktiziert werde aber das Gegenteil.Auf die Betriebe entfallen durch die Anhebung zusätzliche Lohnnebenkosten von fünf Mrd.DM.Rechne man die gestiegenen Krankenversicherungsbeiträge hinzu, dann kletterten die Personalzusatzkosten 1998 erneut auf rund 82 Prozent.Die Arbeitgeber beunruhigt dabei am meisten, daß die Koalition offenbar vollkommen handlungsunfähig ist und der Entwicklung tatenlos zusieht.Seine Forderung nach einem Vorziehen der Rentenreform auf 1998 trägt Hundt pflichtschuldig, aber ohne Hoffnung vor. Die Koalition will die Rente jedoch nicht reformieren, weil das im Wahljahr zu einer geringeren Anhebung der Renten führen könnte.Den Groll der Beitragszahler fürchten die Abgeordneten von CDU, CSU und FDP weniger.Dieter Hundt hält es dagegen für zumutbar, "wenn es im kommenden Jahr nicht zu einer Erhöhung kommt". Die Rentenversicherer würde eine Erhöhung von etwa einem Prozent fast drei Mrd.DM kosten, eine weitere Milliarde müssen sie für die bessere Anrechnung der Kindererziehung bezahlen.Ein Vorziehen der Rentenreform, sagt die BDA, werde den Anstieg der Renten halbieren.Außerdem könne die Höherbewertung der Kindererziehung ausgesetzt werden.Im Arbeitsministerium wird dieser Rechnung in Zweifel gezogen.Ein Vorziehen der Rentenreform bringe nichts, weil alle Ansprüche für das nächste Jahr schon feststünden. Umso nachdrücklicher verweist man im Hause Blüm auf die Möglichkeit der Umfinanzierung.Mit zusätzlichen 15 Mrd.DM aus dem Bundeshaushalt bräuchte die Rentenversicherung im nächsten Jahr nur einen Beitragsatz von 20 Prozent.Die Anhebung des Bundeszuschusses und ihre Finanzierung durch eine höhere Mehrwertsteuer hat der Bundestag zwar am Freitag mit der Koalitionsmehrheit beschlossen, sie wird aber von der SPD im Bundesrat zu Fall gebracht werden.Nicht weniger entsetzt als die Arbeitgeber sind die Gewerkschaften über die Anhebung des Rentenbeitrages.Die Gewerkschaften sehen die Hauptursache des Beitragsanstiegs allerdings nicht in einer verfehlten Rentenpolitik sondern in der Arbeitslosigkeit und der um sich greifenden "geringfügigen Beschäftigung" und sogenannter "Scheinselbständigkeit", für die keine Versicherungsbeiträge fällig werden.Kurzfristig treten die Gewerkschaften für eine Erhöhung des Bundeszuschusses ein.Damit sollen die Leistungen ausgeglichen werden, die die Rentenversicherung seit der Wiedervereinigung übernommen hat.Diese Entscheidung wird von den Gewerkschaften zwar nicht beanstandet, die Kosten dafür müßten aber die Steuerzahler übernehmen. Unstrittig ist, daß die Anhebung des Rentenbeitrags die Arbeitskosten erhöht und negativen Einfluß auf die Beschäftigung hat.Wieviel Arbeitsplätze dadurch verloren gehen, wagen auch die Konjunkturforscher nicht zu prognostizieren.In ihrem Herbstgutachten, das in dieser Woche vorgestellt wurde, ist ein Anstieg der Rentenbeiträge auf 20,6 Prozent schon einkalkuliert.Der zusätzliche Anstieg werde vor allem auf die Stimmung der Arbeitgeber schlagen, vermutet man beim Institut für Weltwirtschaft in Kiel.Ansonsten werde es darauf ankommen, welche Konsequenzen die Tarifpartner aus der Beitragsanhebung ziehen.Wenn die Gewerkschaften sie bei der nächsten Lohnrunde berücksichtigen, würden die Arbeitskosten nicht zwangsläufig verteuert.Für sehr wahrscheinlich hält man das in Kiel aber nicht.

TOM WEINGÄRTNER

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