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Vertragsvielfalt in Unternehmen: Das deutsche Tarifsystem wackelt

Das Bundesarbeitsgericht gibt den Grundsatz der Tarifeinheit auf. Damit sind mehrere Tarifverträge in einem Betrieb möglich - und auch mehr Konflikte. Arbeitgeber und DGB plädieren nun für ein Gesetz.

Berlin - Die Auseinandersetzung um die Ausgestaltung des deutschen Tarifsystems ist eröffnet. Nachdem das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt am Mittwoch den Grundsatz der Tarifeinheit in der bisherigen Form für überholt erklärt hatte, brachten sich diverse Interessengruppen in Stellung. In ungewöhnlicher Eintracht reagierten DGB und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Beide Spitzenorganisationen befürchten nun eine „Zersplitterung der Tariflandschaft“ und bekräftigten ihre Forderung an die Politik, den Grundsatz der Tarifeinheit, wonach in einem Betrieb in der Regel nur ein Tarifvertrag gilt, nun gesetzlich festzuschreiben. Diverse Berufsgewerkschaften begrüßten dagegen das Urteil des BAG und warnten vor einer gesetzlichen Regelung.

Das BAG hatte entschieden, dass in einem Betrieb durchaus mehrere Tarifverträge angewendet werden können, „wenn für den einzelnen Arbeitnehmer nur ein Tarifvertrag gilt“. Arbeitgeberverbände und der DGB, der acht Einzelgewerkschaften umfasst, befürchten nun das Aufkommen einer Vielzahl von Berufsgewerkschaften, die dann für ihre spezielle Klientel eigenständige Tarifverträge durchzusetzen versuchen. Als abschreckendes Beispiel dafür gelten Lufthansa und Bahn, wo jeweils mehrere Gewerkschaften verschiedene Beschäftigtengruppen vertreten und für diese dann Tarife aushandeln. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sieht schon „englische Verhältnisse“ aufziehen, weil in den Betrieben permanent mit Streiks gerechnet werden müsse und im Ergebnis die Tarifautonomie zerstört würde. DGB-Chef Michael Sommer meinte am Mittwoch: „Krise und Chaos haben wir schon genug, was wir jetzt nicht brauchen, ist eine neue Krise an der Tariffront.“

Da die Entscheidung des BAG absehbar war, hatten BDA und DGB bereits vor einigen Wochen der Politik einen Vorschlag zu einer gesetzlichen Regelung der Tarifeinheit gemacht. Danach sollte für den Fall, dass in einem Betrieb verschiedene Tarifverträge für dieselbe Beschäftigtengruppe gelten, nur der Tarif angewendet werden, unter den die meisten Beschäftigten fallen. Die größten Gewerkschaften hätten also einen Vorteil.

Entsprechend fallen die Reaktionen der Kleinen aus. „Wer die Menschen bevormunden will, wird scheitern“, sagte Rudolf Henke, Vorsitzender des Marburger Bundes, am Mittwoch. „Ein Gesetz, dass die verfassungsrechtlich garantierte Koalitionsfreiheit zerstört, wird keinen Bestand haben“, sagte Henke weiter. Die Ärzteorganisation hatte sich, wie berichtet, am Dienstag mit Vertretern einer Handvoll anderer Berufsgewerkschaften getroffen, um das Vorgehen gegen die Gesetzespläne von BDA/DGB zu besprechen.

Die Gewerkschaft der Lokführer (GDL) freute sich über die Entscheidung des obersten Arbeitsgerichts, weil es künftig in deutschen Firmen mehrere Tarifverträge nebeneinander geben könne. „So wie die Vielfalt der Parteienlandschaft die Demokratie stärkt, so stärken die gewerkschaftliche Vielfalt und die tarifvertragliche Pluralität die Arbeitnehmerinteressen“, kommentierte Claus Weselsky, Vorsitzender der GDL. Er sei in einem System aufgewachsen, „wo das leider nicht der Fall war“, meinte der aus Ostdeutschland stammende oberste Lokführer. Ganz anders reagierte der Verband der kommunalen Arbeitgeber auf das jüngste Urteil. „Weitere einzelne Berufsgruppen könnten sich nun veranlasst sehen, ihre Schlüsselstellungen zu ihrem Vorteil zu nutzen, um höhere Einkommen durchzusetzen.“ Deshalb sei ein Gesetz zur Tarifeinheit notwendig.

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