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Wirtschaft: Wenn der Lohn niedriger als die Stütze ist

Millionen Beschäftigte könnten ihr Einkommen im Jobcenter aufbessern - Sie wissen nur nichts davon

Von Antje Sirleschtov

Berlin - In Deutschland gibt es offenbar Millionen Menschen, die trotz Arbeit Anspruch auf staatliche Leistungen haben, diese Leistungen jedoch nicht einfordern. Grobe Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarktforschung (IAB) gehen allein in Ostdeutschland von gut einer Million Menschen aus, die das betrifft. Dass noch einmal mindestens so viele Betroffene im Westen dazukommen, kann angenommen werden. Empirische Daten dazu gibt es allerdings nicht.

Unter dem Begriff „working poor“ versammelt, gehen die Betroffenen regulärer sozialversichungspflichtiger Beschäftigung nach, sind selbstständig oder haben Minijobs. Weil ihre Nettolöhne so niedrig sind, dass sie für sich und ihre Familien monatlich weniger Geld zur Verfügung haben, als die in den Hartz-Gesetzen festgeschriebene Grundsicherung plus Mietzuschüsse, steht ihnen eigentlich „aufstockende Hilfe“ zu. Vor allem aus Unwissenheit, aber auch aus Scham nutzen die Betroffenen die Regelungen des Sozialgesetzbuches jedoch nicht.

Besonders in Ostdeutschland ist die Zahl der Berechtigten wegen des allgemein niedrigeren Lohnniveaus sehr hoch. Allein in Sachsen-Anhalt steht nach Schätzungen des dortigen Wirtschaftsministeriums rund 200000 der eine Million Erwerbstätigen - das ist immerhin jeder Fünfte - eine monatliche Zusatzzahlung der Arbeitsagenturen zu. Nur rund 50000 davon bekommen jedoch die aufstockenden Leistungen auch tatsächlich.

Die Schwelle, bis zu der man Zusatzzahlungen erhalten kann, liegt in Ostdeutschland bisher bei einem Stundenlohn von rund sechs Euro brutto für Single-Haushalte – und entspricht damit in etwa dem Mindestlohn, der im Augenblick politisch diskutiert wird. Familien mit Kindern, denen eigene Ansprüche zustehen, können noch höhere Stundenlöhne verdienen und haben trotzdem einen Leistungsanspruch an den Staat. Mehr noch: Mit dem von der großen Koalition unlängst verabschiedenen Gesetz zur Angleichung des ALG II auf Westniveau steigt die Anspruchsgrenze in den neuen Bundesländern in diesem Jahr sogar. Denn noch mehr Erwerbstätige werden dann Netto weniger Geld verdienen als ihnen und ihrer Familie per Gesetz zur Grundsicherung zusteht.

Der Grund für diesen massenhaft stillen Verzicht der Erwerbstätigen liegt nach Ansicht von IAB-Forschern häufig darin, dass die Betroffenen glauben, mit Monatsnettoeinkommen von rund 1200 bis 1400 Euro keinen Anspruch mehr auf Geld vom Staat zu haben, dabei allerdings die Rechte ihrer Partner und Kinder unterschätzen.

Weder Politiker noch die Agentur für Arbeit haben bisher jedoch Interesse an einer flächendeckenden Information der Menschen über ihre Rechte. Denn auf die Arbeitsagenturen käme eine unübersehbare Antragsflut zu, wenn nun neben den regulären Arbeitslosen auch noch Erwerbstätige ihre Ansprüche berechnen und auszahlen ließen. Die Arbeitsagenturen erheben seit Inkrafttreten der Hartz-Gesetze noch nicht einmal statistisch, wie vielen Erwerbstätigen sie ergänzende Leistungen nach Paragraf 30 des Sozialgesetzbuches II bezahlen. In den zuständigen Länderministerien wird die Zahl grob mit 600000 geschätzt.

Bis zum neuerlichen Aufflammen der Diskussion um Kombi- und Mindestlöhne scheuten Politiker von Bund, Ländern und Kommunen die breite öffentliche Debatte über das Thema sogar - vor allem wegen der Kosten, die entstehen .

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