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Wirtschaft: Wenn Elefanten laufen lernen

Die deutsche Wirtschaft hat Indien im Vergleich zu China lange vernachlässigt. Dabei hat der Boom längst begonnen

Es passiert nicht oft, dass Schwellenländer große Industrienationen davor warnen, nicht den Anschluss zu verlieren. Doch als der indische Finanzminister Palaniappan Chidambaram im Frühjahr Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) und eine Delegation von rund 50 deutschen Unternehmern empfing, da war seine Botschaft klar: Deutschland, mahnte Chidambaram, dürfe seine Chancen in Indien nicht verpassen. Mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von mehr als sechs Prozent werde sich das Land zur zweiten großen Wirtschaftsmacht in Asien entwickeln. „In dieser Welt ist genügend Platz für China und Indien da“, sagte der Minister – wohl wissend, dass sich die deutsche Wirtschaft bei der Auslotung neuer Märkte bislang vor allem auf die Volksrepublik konzentriert hat.

Im Gegensatz zu China hatte Indien seinen Markt erst Anfang der 90er Jahre geöffnet und weniger aggressiv als der große Konkurrent für den Standort geworben. Doch Indien holt mit großer Geschwindigkeit auf: Nach Einschätzung der Deutschen Bank wird das Land in den nächsten Jahren das stärkste Wachstum unter 34 ausgewählten Industrie- und Entwicklungsländern aufweisen und bis 2020 die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt sein. Grund dafür, so die Deutsche Bank, sind eine günstige demografische Entwicklung, steigende Investitionen des Landes in Bildung und Infrastruktur und eine stärkere Integration in die Weltwirtschaft. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung steigt auch die Kaufkraft der 1,1 Milliarden Menschen, und mit wachsender Bildung das Potenzial an gut ausgebildeten Fachkräften.

Doch bei den genehmigten Investitionen belegt Deutschland in der indischen Statistik mit 37 Millionen Euro bislang nur den siebten Platz. „Im Vergleich zu China haben wir in Indien noch einen riesigen Nachholbedarf“, sagt Dirk Matter, der Geschäftsführer der deutsch-indischen Handelskammer. Der deutschen Wirtschaft dämmert langsam, was ihr entgeht. „Seit Anfang des Jahres haben wir 30 Prozent mehr Anfragen“, sagt Matter. Auch bei Infosys Technologies, einer indischen Firma, die Unternehmen bei der Auslagerung von Geschäftsprozessen nach Indien berät, klingelt das Telefon jetzt häufiger. „Wir verzeichnen seit etwa neun Monaten eine deutlich gestiegene Nachfrage“, sagt Debjit Chaudhuri, der Deutschland-Manager des Unternehmens. Allerdings würden nur wenige deutsche Mittelständler den Sprung nach Indien auch tatsächlich wagen. „Das hat vor allem mit der unterschiedlichen Kultur zu tun, die viele abschreckt“, meint Chaudhuri. „Vielen fehlt die Risikobereitschaft und die nötige Geduld.“

Das deutsch-indische Handelsvolumen ist im vergangenen Jahr zwar um 22,5 Prozent gewachsen, liegt aber mit 6,2 Milliarden Euro noch weit unter der Marke, die der deutsch-chinesische Handel erreicht hat.

Im Gegensatz zum Mittelstand sind die großen, global aufgestellten deutschen Unternehmen mutiger. Pionier Siemens verlegte schon vor 140 Jahren das erste Telegraphenkabel zwischen Kalkutta und London, Autozulieferer Bosch startete vor 80 Jahren. Deutschland sei in Indien traditionell im Maschinenbau stark vertreten, sagt Handelskammer-Chef Matter.

Firmen wie der Softwarekonzern SAP oder die Deutsche Bank haben dagegen auf der Suche nach günstigen Dienstleistungen den weiten Weg auf sich genommen: Sie lassen ihre Software von den hervorragend ausgebildeten indischen Fachkräften entwickeln, SAP hat inzwischen sogar die Wartung der hauseigenen Software nach Indien verlagert – zu einem Bruchteil der Lohnkosten, die das Unternehmen in Deutschland zahlen müsste (siehe unten). „Indien gehört für SAP gemessen am Umsatz zu den am schnellsten wachsenden Ländern“, sagt ein Sprecher.

Nach Angaben der US-Unternehmensberatung neoIT ist Indien weltweit zum beliebtesten Ziel für die Auslagerung von Unternehmensteilen geworden. Der Wert des Exports von „Business process outsourcing“ (BPO), wie es im Fachjargon heißt, betrug in Indien 2003 insgesamt 3,1 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: In China war das BPO nur 210 Millionen Dollar wert. Attraktiv sei neben der guten Infrastrukur in den IT-Parks und den gut ausgebildeten Fachkräften vor allem, dass Indien den BPO-Firmen noch bis 2009 anbiete, keine Steuern auf Export-Gewinne zu erheben, sowie eine 100-prozentige Einkommensteuerfreiheit für die ersten fünf Jahre.

Von dem Boom profitiert auch die Luftfahrtbranche. Anfang des Jahres hat die Deutsche Lufthansa ihre fünfte Route gestartet, von Frankfurt nach Hyderabad in Südindien. Begründung: Das wachsende Potenzial als Drehscheibe für multinationale Firmen, die sich auf Informationstechnologie (IT) und Biotechnologie konzentrieren, und der internationale Lebensstil in der Region. Zudem hat die Lufthansa ihre Frequenz nach Bangalore um zwei Flüge auf sieben pro Woche angehoben. Die Universitätsstadt Bangalore im Süden Indiens ist das Zentrum der indischen IT-Branche. Die Expansion der Lufthansa ist allerdings begrenzt, weil der indische Markt noch immer streng reguliert ist. Jeden neuen Flug muss das Unternehmen mit der indischen Regierung neu aushandeln.

In anderen Wirtschaftszweigen – wie Straßenbau, Luftfahrt und Energie – ist die Liberalisierung weiter vorangeschritten. Indien bemüht sich vor allem um deutsche Investitionen für seine marode Infrastruktur. „Da gibt es noch viel zu tun – die Straßen sind verstopft, die Häfen und Flughäfen noch nicht so weit, wie sie sein müssten“, sagt Hubert Lienhard, Vorstandsmitglied im Maschinenbaukonzern Voith und Indien-Sprecher im Asien-Pazifik-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft. „Aber die Regierung hat inzwischen ein Investitionsprojekt aufgelegt. Es geht voran.“

Lienhard sieht aber nicht nur Chancen, sondern auch Risiken: „Wir werden einen harten Wettbewerb bekommen, dem wir uns stellen müssen“, sagte er. „In Deutschland ist vielen noch immer nicht bewusst, was da für ein Powerblock heranwächst.“

Maren Peters, Flora Wisdorff

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