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Wirtschaft: Wie ein Schweizer Käse

200 Jahre Bergbau an Rhein und Ruhr haben den Boden durchlöchert. Die RAG will die Risiken loswerden

Wassenberg/Düsseldorf - Einige Fenster des alten Rathauses von Wassenberg sind schon mit Spanplatten verrammelt. Risse ziehen sich durch die roten Backsteinmauern des Gebäudes, breit genug, um einen Apfel hineinzustecken. „Wenn ich hier raus muss, fange ich wieder bei null an“, sagt Hans Brender. Noch bereitet der Chef des Ratskellers seinen Gästen Lammkarree und Heringstipp zu – doch weil das Haus über einem stillgelegten Kohlebergwerk steht, muss es womöglich bald abgerissen werden. So erging es bereits mehreren Gebäuden in Wassenberg, einer 17 000-Einwohner- stadt im alten Aachener Kohlerevier.

Bergschäden wie in Wassenberg werden in Nordrhein-Westfalen noch lange zum Alltag tausender Hausbesitzer zählen. Und für die Reparaturkosten in Milliardenhöhe müssen möglicherweise auch die Steuerzahler aufkommen, sagen Kritiker voraus. Denn der Essener Kohlekonzern RAG, die frühere Ruhrkohle AG, will die Risiken vor dem Börsengang loswerden (siehe Kasten).

Selbst wenn die Gruben geschlossen sind, bleiben Probleme – wie in Wassenberg bei der Zeche Sophia-Jacoba. Dort stellte der Betreiber, eine RAG-Tochterfirma, nach dem Ende der Förderung 1997 die Pumpen für das Grubenwasser ab. Die Schächte liefen voll, das Wasser hat die Erdoberfläche schon um bis zu 20 Zentimeter nach oben gedrückt.

Mehr als 200 Eigentümer machen allein in Wassenberg und Umgebung dieses Phänomen für Risse und schiefe Wände an ihren Häusern verantwortlich. „Hier sind Existenzen bedroht“, sagt Wilfried Vieten von der örtlichen Initiative „Bürger gegen Bergschäden“. Er verlangt Entschädigungen von der RAG. Doch nur in einem Bruchteil der Fälle sieht sich der Konzern des Ex-Wirtschaftsministers Werner Müller dazu verpflichtet.

Für das Unternehmen, das fast für den gesamten deutschen Rest-Steinkohlebergbau steht, sind derartige Streits lästig – und kostspielig. Künftig möchte der Konzern damit nichts mehr zu tun haben. Müller will die RAG an die Börse bringen. Schwer kalkulierbare Altlasten, zu denen auch einsturzgefährdete Stollen zählen, sollen Investoren nicht schrecken.

Während die Pensionslasten mit den Jahren geringer werden, verursachen alte Stollen und Schächte bis in unbestimmte Zeit Kosten. Etwa durch so genannte Tagesbrüche: Rund hundertmal im Jahr melden besorgte Bürger an Rhein und Ruhr den Bergämtern Löcher mit einem Durchmesser von bis zu einigen Metern, die sich in ihrem Garten oder auf einer Wiese aufgetan haben. Meist ist dann ein darunterliegender alter Stollen zusammengefallen.

Schlagzeilen machte im Jahr 2000 das Bochumer Loch, in dem außer ein paar Kiefern die komplette Garage einer Familie versank. Nur durch Zufall wurde niemand verletzt. Mit Millionenaufwand werden solche Löcher geflickt. Manchmal zahlt dafür die RAG als Rechtsnachfolgerin alter Berggesellschaften.

Den nordrhein-westfälischen Behörden sind 23 000 oft unzureichend verschlossene Stolleneingänge bekannt. „Das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange“, sagt Andreas Welz, Leitender Bergvermessungsdirektor bei der Abteilung Bergbau und Energie in NRW. Auf der Jagd nach dem schwarzen Gold für die Schwerindustrie haben Generationen von Bergleuten aus dem Untergrund so etwas wie Schweizer Käse gemacht. Erst nach dem Tagesbruch von Bochum haben die Behörden begonnen, das Ausmaß Gemeinde für Gemeinde zu erfassen.

So genannte Ewigkeitskosten entstehen auch an anderer Stelle. Auf Dauer müssen hunderte Pumpen das Grundwasser in den Revieren regulieren. Durch den Bergbau sanken ganze Landstriche um bis zu 20 Meter ab. Würden die Pumpen abgestellt, verschwänden ganze Orte im Ruhrgebiet unter einem gigantischen See.

Kaum abzuschätzen sind die Folgen der Hebungen, wie sie derzeit das Städtchen Wassenberg im Aachener Revier erlebt. „Bislang hatte man gedacht, es können keine Bergschäden durch Grubenwasser entstehen“, sagt Axel Preuße, Bergbauexperte an der Technischen Universität Aachen. Nun sei aber unklar, ob etwa weite Teile des Ruhrgebiets von dem Phänomen betroffen sein könnten, wenn die Gruben voll Wasser laufen.

Ein Fachkollege, der Gutachter Peter Immekus, geht einen Schritt weiter: „Die Schäden werden überall eintreten, wo die Pumpen abgestellt werden. Im Ruhrgebiet ist eine ganze Infrastruktur gefährdet, mit Pipelines und Industrieanlagen.“ Die RAG-Tochter Deutsche Steinkohle AG widerspricht und klammert eventuelle Kosten aus ihren Altlastenrechnungen nach eigenen Angaben aus. Bis die endgültigen Folgen der Bodenhebungen erkennbar werden, ist das Risiko nach Vorstellungen der RAG aber bereits auf den Staat übergegangen.

Im Wassenberger Zentrum lichtet sich derweil die Bebauung. Wo bis vor kurzem Wohn- und Geschäftshäuser die Graf-Gerhard-Straße am Rathaus säumten, klafft nun eine Lücke; ein Bauzaun sperrt das Gelände ab. Als Nächstes könnte die evangelische Hofkirche aus dem 17. Jahrhundert der Abrissbirne zum Opfer fallen.

Nils-Viktor Sorge

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