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Der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber.

© MANFRED THOMAS/TSP

Diversity Konferenz: Wolfgang Huber: "Diversität dient dem gesellschaftlichen Frieden"

Wer Menschen auf einzelne Merkmale reduziert, greift deren individuelle Identität an, sagt der Theologe Wolfgang Huber auf der Diversity-Konferenz. Seine Rede im Wortlaut.

Bei der Fachkonferenz für Vielfalt in der Arbeitswelt "Diversity 2017", hielt der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber, eine Keynote. Wir veröffentlichen die Rede in voller Länge.

Am gestrigen Abend, dem 15. November 2017, lud die Atlantik-Brücke hier in Berlin zu einem Fireside Chat über das Thema Diversity ein. Gesprächspartnerin war Candice Morgan, Head of Inclusion and Diversity bei der Social Media Plattform Pinterest mit dem Hauptsitz in Palo Alto. Das Unternehmen hat sich zum Ziel gesetzt, Einstellungsquoten von Frauen und unterrepräsentierten Minderheiten zu steigern. Man ist davon überzeugt, dass dies wirtschaftliche Vorteile für das Unternehmen bringt. Denn Vielfalt steigert die Leistungsfähigkeit eines Teams. Die Zusammenarbeit wird vielleicht nicht einfacher, aber kreativer und spannender. Der Titel des Fireside Chat hieß folgerichtigerweise „The Business Case for Diversity“.

Jedes Unternehmen steht nicht nur vor der wirtschaftlichen Notwendigkeit, sondern auch vor der ethischen Verpflichtung zu profitablem Vorgehen. Denn andernfalls geht es ihm so wie Air Berlin. Wenn ein Unternehmen nicht profitabel wirtschaftet, schadet das nicht nur den Anteilseignern, sondern allen Anspruchsgruppen, die mit dem Unternehmen verbunden sind. Doch in allen wichtigen unternehmerischen Fragen und somit auch in allen Führungsaufgaben in der Wirtschaft steht auch anderes auf dem Spiel als nur die Profitabilität. Die Charta der Vielfalt jedenfalls hält offenkundig Diversity nicht nur für einen Business Case. Sie gründet sich vielmehr auf eine Überzeugung, die folgendermaßen formuliert wird: „Gelebte Vielfalt und Wertschätzung dieser Vielfalt hat eine positive Auswirkung auf die Gesellschaft in Deutschland.“

Trifft diese Aussage zu? Stimmt es, dass Vielfalt und Wertschätzung dieser Vielfalt sich positiv auf die deutsche Gesellschaft auswirken? Stabilisiert Diversity in Unternehmen in sich selbst schon den gesellschaftlichen Frieden? Oder bedarf es eigener zivilgesellschaftlicher Anstrengungen ebenso wie politischer Rahmenbedingungen, wenn Vielfalt nicht nur wirtschaftlich genutzt werden, sondern sich auch gesellschaftlich positiv auswirken soll? Doch was verstehen wir unter Vielfalt? Und was ist nötig, damit der Umgang mit dieser Vielfalt dem gesellschaftlichen Frieden dient?

 Diversität bewahrt nicht automatisch vor Diskriminierung

Vorgestern Abend, am 14.November, hatten wir zum letzten Mal in diesem Jahr Gelegenheit, die Diversität der deutschen Fußball-Nationalmannschaft wahrzunehmen. Die Übertragung des mit einem (für Deutschland) glücklichen Unentschieden endenden Spiels wurde durch den bekannten Spot abgeschlossen, in dem der Satz „Wir sind Vielfalt“ durch einen sich in Sekundenschnelle wandelnden männlichen Kopf illustriert wird. Wer flink genug ist, kann in diesem Kopf Mats Hummels oder Sami Khedira, Mesut Özil oder Leroy Sané, Antonio Rüdiger oder Mario Götze erkennen. Aber darauf kommt es nicht an. Vielmehr wird vermittelt, dass verschieden „Typen“ in der Nationalmannschaft gleichberechtigt sind, vorausgesetzt sie spielen hervorragend Fußball und sind kraft ihrer Staatsangehörigkeit spielberechtigt.

Aber in der schnellen Sequenz der im Fernsehen gezeigten Spielerköpfe kommt es nicht auf die Spielerpersönlichkeiten mit ihrer individuellen Klasse, sondern auf die Typen an: Helle oder dunkle Haare, gescheitelt oder als Wuschelkopf, hellere oder dunklere Haut symbolisieren unterschiedliche Herkünfte. Die meisten sind in Deutschland zur Welt gekommen und sozialisiert; aber ihr unterschiedlicher Phänotyp repräsentiert Diversität. Deshalb spricht man schon seit Jahren davon, die Fußballnationalmannschaft bilde die multikulturelle Wirklichkeit in unserem Land auf exemplarische Weise ab. Zu welchen Verirrungen das führen kann, hat Alexander Gauland wahrhaft exemplarisch gezeigt, als er behauptete, die Feststellung, dass Jérôme Boateng gut Fußball spielen könne, ändere nichts daran, dass die Leute ihn nicht gern als Nachbarn hätten. Man kann diese rassistische Entgleisung als einen Hinweis darauf werten, dass die typisierende Darstellung von Diversität nicht automatisch vor Diskriminierung bewahrt.

Der Mensch ist die einzige überlebende Art der Gattung Homo

Wenn ich mich nicht täusche, schließt die Anwendung des Begriffs der Diversität auf Menschen an die Debatte über Biodiversität an, die sich auf Pflanzen und Tiere, also auf die nichtmenschliche Natur, bezieht. Ein Besuch im Berliner Naturkundemuseums veranschaulicht den Maßstab für Biodiversität. Sie bezieht sich auf die Zahl der Tier- und Pflanzenarten auf der Erde. Verblüfft kann man zur Kenntnis nehmen, dass die 1,8 Millionen bisher wissenschaftlich beschriebenen Tier- und Pflanzenarten nur einen Bruchteil der Arten darstellen, die insgesamt auf der Erde existieren. Diese Gesamtzahl lässt sich nur grob schätzen; denn die Extrapolationen aus der Zahl der erfassten auf die Zahl der nicht erfassten Arten sind offenkundig ungenau. Deshalb schwanken die Angaben über die Gesamtzahl zwischen 13 und 30 Millionen. Angeblich soll das lediglich ein Prozent der Arten sein, die im Lauf der Evolution die Erde bereits bevölkert haben. Entscheidend ist jedoch nicht die Zahl; worauf es ankommt, ist der Unterschied der Arten.

Wenn man den Begriff der Diversität auf die Menschheit anwendet, kann man so nicht vorgehen. Eine derartige Diversität gibt es im Blick auf den Menschen nicht. Denn der Mensch (der Homo sapiens) ist die einzige überlebende Art der Gattung Homo. Wenn wir gleichwohl von der Menschengattung sprechen, so muss diese ungenaue Redeweise gegenüber dem Irrtum abgesichert werden, dass es innerhalb dieser Gattung unterschiedliche Arten gebe. Nicht nur als Gattung, sondern als Art gibt es nur eine einzige Menschheit.

Nur die Einmaligkeit kann Identität rechtfertigen

Es dauerte allerdings bis ins 20. Jahrhundert, bis diese Einsicht ins Normative gewendet und die Einheit der Menschenwürde als Grundlage für den Respekt vor den gleichen fundamentalen Rechten jedes Menschen anerkannt wurde. Dennoch wird immer von unterschiedlichen Arten von Menschen gesprochen; Rassismus ist eines der massivsten Beispiele für diesen Irrwegen, der jedoch auch in subtileren Varianten begegnet. Streng genommen kann jedoch von menschlicher Diversität nur dann gesprochen werden, wenn der einzelne Mensch – und nicht etwa unterschiedliche Arten von Menschen – das Subjekt dieser Diversität bildet.

Nur dann konvergiert die Rede von Diversität mit der Einsicht in die unantastbare Würde jedes Einzelnen. Nicht die Unterschiedlichkeit von Arten, sondern nur die Einmaligkeit des Individuums kann die Rede von Diversität rechtfertigen. Das staunenswerte, ja bisweilen auch beunruhigende Wachstum der Menschheit ändert daran nichts. Auch durch die zunehmende Zahl der Menschen wächst die Angst der Menschen davor, plötzlich einem Doppelgänger zu begegnen, nicht. Es gibt gute Gründe dafür, dass die Menschen sich gerade deshalb als zum Ebenbild Gottes geschaffen verstehen, weil sie darauf vertrauen können, unverwechselbare Individuen zu sein.

Freilich darf man diese Individualität nicht mit einer Konzeption des Individualismus oder der Individualisierung verwechseln, die in der Vorstellung zum Ausdruck kommt, der Mensch sei seinem Wesen nach ein selbstbezügliches, von der Gemeinschaft abgekoppeltes Wesen: Die hier gewählte Rede von der Einmaligkeit jedes Individuums verbindet sich also keineswegs mit der Auffassung. die Individualität habe den Vorrang vor der Sozialität des Menschen. Wer immer die Gemeinschaftsbezogenheit des menschlichen Lebenslaufs von der Geburt bis zum Tod an anderen wahrnimmt, wird, kann auch für sich selbst erkennen, dass Sozialität und Individualität gleich ursprünglich sind.

Um Klischees zu verhindern, wird an Typisierungen angeknüpft

Wird die Bindung der Diversität an den einzelnen Menschen verkannt, kann dieser Begriff leicht in überholte Typisierungen zurückfallen. Am Beispiel der Fußball-Nationalmannschaft wurde das schon deutlich. Auch die Charta der Vielfalt verwendet solche Typisierungen. Sie tut es in der Form, dass sie eine Wertschätzung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unabhängig von ihren charakteristischen Unterschieden verlangt. Aber indem sie diese Unterschiede benennt, greift sie gleichwohl auf solche Typisierungen zurück. Es heißt in ihr, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seien „unabhängig von Geschlecht, Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexueller Orientierung und Identität“ zu achten; damit werden diejenigen Merkmalsmuster aufgegriffen, nach denen Menschen üblicherweise unterschieden werden.

Dieser Weg lässt sich nur schwer vermeiden. Um Klischeebildungen zu verhindern, wird an Typisierungen angeknüpft. Nur der Hinweis auf die „Identität“ fällt dabei aus dem Rahmen. Denn „Identität“ ist gerade nicht ein typisierendes Merkmal. Die Identität eines Menschen ist vieldimensional, geschichtlich, wandelbar. Typisierungen dagegen sind gerade nicht Ausdruck der multiplen Identität eines Menschen. Sie stellen eher einen Angriff auf diese Identität dar. Sie neigen dazu, Menschen auf ein Identitätsmerkmal zu reduzieren, das sie mit einer Gruppe anderer Menschen verbindet. Oft polarisieren solche Merkmale; absolut gesetzt, stiften sie zur Feindschaft an. Aus den Zeiten von Nationalismus und Rassismus ist das auf traurig stimmende Weise bekannt.

Menschen auf ihre Religion zu begrenzen, führt nicht weit

Die Gefahr ist leider keineswegs gebannt. Gegenwärtig erleben wir beispielsweise, wie eine große Gruppe von Einwohnern Deutschlands auf ein einziges Merkmal reduziert wird, nämlich das Merkmal der Religionszugehörigkeit. Seit 9/11, seit den Terroranschlägen auf die Twin Towers in New York und das Pentagon in Washington am 9. September 2001, haben wir uns angewöhnt, Bevölkerungsteile, deren Herkunft auf islamisch geprägte Ländern verweist, pauschal als Muslime zu bezeichnen. Die Reduzierung von Menschen auf ihre vermutete Religionszugehörigkeit ist nur von begrenztem Erkenntniswert. Aber sie ist geeignet, Ängste und Aversionen zu schüren. Dem aus Indien stammenden Nobelpreisträger Amartya Sen zufolge führt die Reduktion der komplexen Identität von Menschen auf ein einziges Merkmal in eine „Identitätsfalle“, die leicht in Gewalt münden kann.

Ich hoffe, ich konnte das Problem des Begriffs „Diversität“ verdeutlichen. Er typisiert, statt zu individualisieren. Diversitäts-Management soll den Anteil von Frauen oder nicht ausreichend berücksichtigten nationalen, ethnischen, sexuellen oder weltanschaulichen Minderheiten erhöhen. Doch wenn man gesellschaftliche Diversität von Biodiversität unterscheidet, reichen  „affirmative actions“ nicht zu, durch die bisher benachteiligte Gruppen verstärkt beteiligt werden. Denn es geht im Kern um den einzelnen und seine multiple Identität.

Jeder Einzelne möchte als Individuum wahrgenommen werden

Konsequent müssten wir nicht von einer multikulturellen Gesellschaft reden, sondern von einer Gesellschaft, die Respekt vor der Individualität ihrer Glieder hat. Ich habe mich gegen diesen Gedanken zunächst gesträubt. Ich witterte hinter ihm den Zeitgeist der Individualisierung, der gesellschaftlichen Zusammenhalt und wechselseitige Solidarität einer Selbstbezüglichkeit opferte, in der jeder nur noch für sich selbst verantwortlich ist. Meine Einstellung änderte sich durch die Chance, das Innenleben von Organisationen zu beobachten. Ich merkte, wie wichtig der Versuch ist, Menschen nicht als Gruppenzugehörige, sondern in ihrer unverwechselbaren Individualität wahrzunehmen, in ihrer Würde wie in ihrer Verletzlichkeit. Ich merkte, wie notwendig es ist, sich auf die Biografie von Menschen einzulassen, mit ihrem Glück wie mit ihren Verwundungen.

Ich entdeckte, wie oft der Sinn für die Vulnerabilität von Menschen verloren geht, weil sie in Schubladen gepackt werden. Oft übersteigt es die Kraft und die verfügbare Zeit von Führungspersonen, die ihnen zugeordneten Menschen in ihrer Individualität wahrzunehmen, mit Stärken und Schwächen, mit Licht und Schatten, mit Siegen und Niederlagen. Oft genug fällt es sogar schwer, sich den Namen eines Menschen zu merken, mit dem man zusammenarbeitet und den man schon lange zu kennen meint.  Glücklicherweise ist es üblich geworden, sich einfach mit „Hallo“ zu begrüßen, ganz „divers“.

Die vor einem Jahr bei der Diversity-Konferenz vorgelegte Studie hat übrigens meinen Vorschlag in einer Weise bestätigt, die mich überrascht und erfreut hat. Heißt doch deren letzter Satz: „Beim Diversity Management geht es darum, dem einzelnen Menschen die maximale Entfaltung seines Potenzials entsprechend seiner individuellen Persönlichkeit zu ermöglichen.“ Es bliebe allenfalls zu ergänzen, dass der einzelne Mensch auch noch andere Bedürfnisse hat als die „maximale Entfaltung seines Potenzials“.

 Menschen auf einzelne Merkmale zu reduzieren, gefährdet den Frieden

Was bedeutet all das für den gesellschaftlichen Frieden? Der Respekt vor der Individualität, dem ich gern den Vorrang vor allen Typisierungen geben will, fordert zum Abschied von der Vorstellung heraus, man kenne einen Menschen schon, wenn man ihn einordnen kann: als Frau, Mann oder drittes Geschlecht, als Türke, Syrer oder Katalane, als Sorbe, Same oder Eskimo, als Christ, Muslim oder Agnostiker, als Körperbehinderter oder seelisch Beschädigter, als zu jung oder zu alt,  als Homo- oder als Heterosexueller. Denn die Identität eines Menschen entzieht sich solchen Einordnungen.  Wann immer wir Menschen auf ein einziges oder auf wenige Identitätsmerkmale festlegen, gefährden wir den Frieden, in einem Unternehmen genauso wie in der Gesellschaft.

Eine alte Gewohnheit sieht gesellschaftliche Homogenität als Voraussetzung verlässlichen Friedens an. Auch die Religionen werden immer wieder in den Dienst einer solchen Vorstellung gestellt. Der mittelalterliche Frieden wurde mit der Homogenität eines corpus christianum gleichgesetzt, die es in Wahrheit gar nicht gab. Zu Recht hat der britische Historiker Peter Brown ein Buch über den Aufstieg des europäischen Christentums im ersten Jahrtausend christlicher Zeitrechnung mit dem Untertitel versehen: „Triumph and Diversity“. Denn die innere Differenzierung des westlichen Christentums begann keineswegs erst mit der Reformation, deren fünfhundertjähriges Jubiläum wir gerade gefeiert haben, sondern lange zuvor. Auch spätere Homogenitätserwartungen wurden in einer Weise enttäuscht, die zu oft in schrecklichen Bürgerkriegen endeten.

Die Absicht, gesellschaftlichen Frieden durch Homogenität zu sichern, mündet oft in Gewalt. Aber ungebändigte Vielfalt kann ein vergleichbares Ergebnis hervorrufen, wie der Balkan nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens demonstriert hat. Im einen Fall kommt es darauf an, die Gewalt der Herrschaft des Rechts zu unterwerfen; im anderen Fall geht es darum, die Vielfalt zu einer Rechtsgemeinschaft zu verbinden. Im Kleinen wie im Großen enthält deshalb Diversität eine Gestaltungsaufgabe. Sie ist auf eine Rechtsordnung angewiesen, die dazu verhilft, dass der Freiheitsgebrauch der einen mit der Freiheitshoffnung der anderen vereinbar bleibt.

Bei größerer gesellschaftlicher Heterogenität ist die Verständigung über diese Regeln nur umso dringlicher. Diese Anforderung wird bei allzu euphorischen Reden über die Segnungen des multikulturellen Zusammenlebens bisweilen unterschätzt. Eine solche Verharmlosung löst unweigerlich einen umso lauteren Ruf nach Recht und Ordnung aus. Die Flüchtlingssituation zeigt das exemplarisch. Für die Wahrnehmung der individuellen Lebenslage ist die Typisierung nur eine Krücke. Aber sie ist unentbehrlich. Verzichtet man auf sie, schiebt man alle denkbaren Fälle durch das Nadelöhr des Asylrechts. Damit hebelt man im Ergebnis das politische Asyl selbst aus.

Hält die Rechtsordnung bei verschärfter Pluralität?       

Das Recht erhebt nicht den Anspruch, die Identität von Menschen zu erfassen. Es konstruiert typische Fälle, um trotz der für das Recht unvermeidlichen Verallgemeinerung den einzelnen Menschen im Maß des Möglichen gerecht zu werden. Alle Menschen durch das Nadelöhr des politischen Asyls zu schieben, ist eine wesentlich schlimmere Verallgemeinerung, als wenigstens zwischen politischem Asyl, Flüchtlingsstatus, subsidiärem Schutz und Armutsmigration zu unterscheiden – die legitime Zuwanderung aus wirtschaftlichen Gründen nicht zu vergessen. Gerade bei diesem leidenschaftlich umkämpften Thema sind rechtliche Unterscheidungen unentbehrlich.

Ohne solche Formen einer rechtlichen Einhegung lässt sich das Zusammenleben von Menschen nur schwer friedlich gestalten. Ob die Einheit der Rechtsordnung bei verschärfter Pluralität hält, wird zu einer Schlüsselfrage. Sie kann nicht vom Staat allein gelöst werden; denn die innere Zustimmung zur gemeinsamen Rechtsordnung beruht auf Voraussetzungen, die der Staat nicht allein zu garantieren vermag. Die Rolle von religiösen Überzeugungen und kulturellen Prägungen tritt in den Blick. Eingelebte Verhaltenskodizes verlieren ihre – oft nur vermeintliche – Selbstverständlichkeit.

Das wirkt umso bedrohlicher, je unbekannter der Fremde ist, der das Vertraute stört.  Die Angst vor Überfremdung bei Abwesenheit der Fremden ist dafür das deutlichste Symptom. Dort, wo die Zahl von ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern gering ist, ist die Angst vor ihnen besonders groß. Groß ist sie freilich auch dort, wo die bisherige Mehrheit zur Minderheit wird und Menschen mit dem Gefühl kämpfen, sie würden zu Fremden im eigenen Land. Für manche wandelt sich die Heimat so schnell, dass sie glauben, heimatlos zu werden. Deshalb wird in der pluralen Gesellschaft der Topos der Heimat besonders attraktiv.

Die Beunruhigten ernst nehmen, bevor es die Angstmacher tun 

Die Auseinandersetzung mit populistischen Parolen, Programmen und Wortführern ist wichtig. Noch wichtiger ist es aber, auf die Menschen zu achten, deren Beunruhigung in eine Angst umschlägt, die sie für populistische Parolen, Programme und Wortführer anfällig macht. Wer sich um den gesellschaftlichen Frieden sorgt, kann die so Verängstigten nicht sich selbst überlassen. Er muss die Beunruhigten ernst nehmen, bevor die Angstmacher sich ihrer bemächtigen. Wer einer Atmosphäre der Ausgrenzung widerstehen will, muss bereit sein, Differenzen wahrzunehmen und notfalls über diese Differenzen auch zu streiten.

Produktiver Streit bedarf der gewaltfreien und offenen Kommunikation. Das Plädoyer für den respektvollen Umgang mit Verschiedenheit schließt ein klares Nein zu gewaltsamen Formen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ein. Das Bagatellisieren aus kulturellem Entgegenkommen scheidet deshalb aus. Die Fälle, an die ich denke, umfassen höchst unterschiedliche Phänomen. Sie reichen von Berlins Schulhöfen und Bahnhöfen zur Domplatte in Köln  oder der Schanze in Hamburg. Wer den Zusammenhalt in einer Gesellschaft des verschärften Pluralismus nicht nur bewahren, sondern stärken will, darf in der Frage der Gewalt keine Kompromisse machen.

Genauso wichtig ist offene Kommunikation. Ihr Maßstab besteht darin, dass man den Austausch mit anderen nicht nur zur Resonanzverstärkung benutzt, sondern auf die Wahrheit in der Position des anderen neugierig ist. Doch für viele Menschen ist die Sehnsucht übermächtig, wahrgenommen zu werden und sich, vor allem digital, mitteilen zu können. Die Sucht nach Resonanz lässt die Hoffnung auf Wirkung wichtiger werden als die Verantwortung für Wahrheit; sie gibt dem Effekt den Vorrang vor der Verlässlichkeit.

Die persönliche Kommunikation wird immer wichtiger

Umso wichtiger wird die unmittelbare, personale Kommunikation. In einer Zeit, in der die digitale Kommunikation sich in alle menschlichen Beziehungen hineinfrisst, muss die analoge Kommunikation umso bewusster organisiert werden. Das gilt nicht nur für Familien und Freundeskreise, sondern ebenso für Unternehmen und Organisationen. Am Ende ist es ganz einfach: Es geht darum, im digitalen Zeitalter die Kommunikation zwischen Menschen und das Internet der Dinge auseinander zu halten. Wer will, dass die Kooperation in einem Unternehmen bei aller Diversität gelingt, muss darauf setzen, dass die Beteiligten durch ihr Verhalten und ihre Kleidung den offenen Austausch und das Gelingen der Kommunikation fördern. Dazu gehört, dass Menschen sich wechselseitig auch in ihrer Körpersprache und Mimik wahrnehmen können. Die Frage, wie mit Burka und Niqab, also mit einer radikalen Auslegungsform islamischer Bekleidungsregeln, umzugehen ist, muss in erster Linie nicht durch den Gesetzgeber, sondern durch die Zivilgesellschaft beantwortet werden.

Die Schulen sind die ersten Orte, an denen die Dringlichkeit des Themas gespürt wurde. Man merkte, dass die Vollverschleierung von Schülerinnen die Kommunikation so beeinträchtigt, dass die Schule ihrem Bildungsauftrag nicht mehr nachkommen kann. Gilt das wirklich nur für die Schule und für deren Bildungsauftrag? Gilt es nicht überall dort, wo Menschen zusammenarbeiten und dafür auf offenen Austausch angewiesen sind. Ist das offene Gesicht nicht eine unentbehrliche Voraussetzung für gelebte Diversität? „Gesicht zeigen“ hieß die Parole für den Mut, sich der Fremdenfeindlichkeit entgegenzustellen, wo immer sie begegnet.

„Gesicht zeigen“ könnte auch eine gute Parole dafür sein, dass Fremde einander nicht fremd bleiben. Die Formel bezeichnet präzise eine der Voraussetzungen dafür, dass Diversität dem gesellschaftlichen Frieden dient. Denn das tut sie nicht automatisch; dafür braucht es Menschen, die sich füreinander öffnen. Denn nur dann können wir hoffen, dass „gelebte Vielfalt und Wertschätzung dieser Vielfalt eine positive Auswirkung auf die Gesellschaft in Deutschland haben“. Von selbst versteht sich das nicht.

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