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Wolfsburg und VW: Eine Stadt, ein Konzern, ein Konsens

Alles ging immer so glatt: Wolfsburg und VW lebten gut voneinander. Aber nach dem Skandal sprechen manche von zu großer Nähe.

Wolfsburg (Der Tagesspiegel, 07.07.2005) - Oben schläft Wolfsburg noch. Aber unter der Erde schlägt schon der Puls der Stadt. Schichtwechsel im Volkswagen-Werk. Vier Eingänge führen in den Schachttunnel, der Menschen unter dem Mittellandkanal hinüberbringt in den Autokonzern. Der Tunnel ist kahl und das Licht kalt, aber es gibt Rolltreppen. Morgens um sechs Uhr laufen hier Hunderte Menschen aneinander vorbei. Kommen und Gehen, dreimal am Tag, drei Schichten lang. Die Broschüren über die eigenen Produkte in den Regalfächern vor dem Werkstor scheinen kaum jemanden zu interessieren, auch der VW-Shop gegenüber mit den Krawatten und den Golf-T-Shirts wird mit keinem Blick gewürdigt. Wolfgang dagegen schon.

An seinem Stand hier unten im Tunnel müssen sowieso alle vorbei. Wolfgangs Gesicht ist so grau wie seine Haare, 14 Jahre hat er am anderen Ende des Tunnels malocht. Jetzt macht er "dies und das, aber selbstständig" - vor allem aber macht er seit Tagen ein großes Geschäft. Seit der VW-Konzern wegen der Schmiergeldaffäre mal wieder in die Schlagzeilen geriet, ist der Umsatz an seinem fliegenden Zeitungsstand um 20 Prozent gestiegen. Die Menschen, die bei ihm stehen bleiben, sind bewegt, verunsichert. "VW im Sexsumpf" titelt der Boulevard. "Das wäre ja wenigstens mal was", lacht einer kurz und nickt Wolfgang zu. Die angebliche Sexaffäre? Geschenkt. Aber dass ihr Betriebsratschef, Klaus Volkert, mittlerweile längst zurückgetreten, involviert ist! Das könnte bittere Konsequenzen haben. Viele haben Angst davor, dass es um ihre Mitbestimmung, die Macht ihrer Gewerkschaft, der IG Metall, bald geschehen ist. Und um ihre Jobs auch . Denn VW gehts wirtschaftlich nicht gut. Und jetzt auch noch Schmiergelder, Scheinfirmen. Was kommt da noch?

Ein paar Schritte vom Tunnel entfernt sitzt Willi Dörr im Gebäude der IG Metall. Er hat müde Augen, beim Reden verschränkt er die Arme hoch über dem Kopf. Dörr schläft zurzeit nicht gut. "Weil ich wütend bin, weil wir alle wütend sind." Es ist der Generalverdacht der Käuflichkeit, mit der die Kritiker die Gewerkschaft und den Betriebsrat überzogen haben, der ins Herz sticht. Dörr sieht die Gefahr, dass "man uns nun spaltet". Die Gewerkschaft fürchtet den Vertrauenszerfall und wittert im Konzern "neoliberale Kräfte, für die sanieren rausschmeißen bedeutet". Bislang sei das nicht der Stil gewesen, sagt Dörr. Aber er weiß, manche im Haus halten das alles für Sozialklimbim. Es steht viel auf dem Spiel, 50 000 Mitarbeiter hat VW allein in Wolfsburg, die Hälfte aller sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer. Sind Konsens und Zusammengehörigkeitsgefühl in Gefahr?

Der "Sozialklimbim" ist für die Kritiker verantwortlich für zu hohe Personal- und Produktionskosten. "Extreme Konsenskultur", höhnt die "Financial Times" und meint unter anderem die 67 Betriebsräte, die sich das Unternehmen allein in Wolfsburg leistet. Der Sozialklimbim hat wiederum aus Sicht der Gewerkschaft dazu geführt, dass ein "einmaliges System von verantwortungsvollem Handeln bei allen Seiten entstanden ist". Findet Dörr. Tatsächlich ist es so, dass VW noch immer einen Haustarifvertrag hat, der über dem Flächentarifvertrag liegt. Immer wieder haben es Konzernspitze und Gewerkschaft geschafft, sich zu einigen.

Um Mitternacht, wenn mal wieder Schichtwechsel ist, biegen die einen schnell ab zu ihrem Auto, die anderen kehren ein. Ein Ritual, das sich seit Jahrzehnten nicht verändert hat. In den Kneipen direkt an den Eingängen zum Tunnel kommt man zur Ruhe. Ein Bier, ein Korn. Ein Bier, ein Korn. Es wird viel geschwiegen. Die Menschen mögen das. In Brunos "Tunnelkneipe" hat Jürgen jetzt aber keine Lust mehr zu schweigen. 20 Jahre ist er als Schlosser dabei, hat ein bisschen Karriere gemacht, "auch wenn ich als Ausbilder nur ein kleines Licht bin". Jürgen ist 56, trägt ein schwarzes Hemd, eine schwarze Weste und hat seine schwarzen Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Auf manchen Reisen sei er auch dabei gewesen, er wisse, wie es da zugeht. "Wenn die Arbeit getan ist, dann bekommst du eben dies und das geboten. Und manchmal hast du auch ein Mädel auf dem Schoß. Und dann nimmst du es halt mit."

Bruno und Helmut nicken. Bruno, der Wirt, kam vor 30 Jahren aus Kalabrien nach Wolfsburg. 14 Jahre hat er durchgehalten, dann hat er lieber in Gastronomie gemacht. Das Konsensmodell, sagen die drei, beruht auf Schweigen. "Das hat bisher noch jedesmal geklappt", sagt Bruno und dreht wissend an seiner Goldkette. Und Helmut, seit 35 Jahren im Betrieb, erzählt, wie es 1978 war. Damals sind sie noch mit blauen Werksbussen aus den Dörfern geholt worden. Ölkrise, die Umstellung vom Käfer zum Golf. Krisenzeit, Krawallstimmung. "Aber kurz vor dem Streik haben sie uns dann mehr Geld gegeben." Und alle waren still. Trotz vieler Entlassungen.

In den 90er Jahren wurde es wieder eng für VW. Wieder gab es lange Auseinandersetzungen, wieder wurde ein Konsens gefunden, und die Vier-Tage-Woche wurde eingeführt. Es war ein großer Coup, den VW-Personalchef Peter Hartz und Betriebsratschef Klaus Volkert mit zu verantworten hatten. Nun stehen beide unter Verdacht. IG-Metaller Dörr hält sie für "herausragende Persönlichkeiten, keine Kriminellen", und stört sich nicht daran, dass manche orakeln, Hartz sei schon bald nicht mehr zu halten. 30 000 Jobs wurden damals gerettet, seither arbeiten die VW-Werker 20 Prozent weniger, bekommen aber nur 15 Prozent weniger Geld.

Ralf Krüger guckt sich um, als werde er verfolgt. Dann entscheidet sich der SPD-Fraktionschef der Stadt Wolfsburg, ein Ehrenamt, für ein Hotel. An der Seite der Lobby fühlt er sich sicherer. "Muss ja nicht jeder gleich zuhören." Ralf Krüger ist ein großer Mann mit einer randlosenBrille und grauweißem Haar. Er liebt sein Wolfsburg, hier ist er geboren, hier lebt seine Familie. Er arbeitet auch bei VW, konzipiert die Berufsausbildung. Und diese ganze Affäre hält er für eine "ziemliche Sauerei, die man schnell aufklären muss". Aber das ist dann auch schon alles an Kritik, denn Krüger ist kein Feind der Tradition, und deshalb fällt auch bei ihm sehr schnell das Wort Konsens. Man kommt nicht daran vorbei in Wolfsburg. Skandal, Affäre, Schmiergeld - nicht gut, nicht schön. Aber Krügers Stichworte sind andere: keine Kampfabstimmungen, keine Streiks, Beschäftigungspakte erfolgreich umgesetzt, 18 Prozent Arbeitslosigkeit auf die Hälfte reduziert.

SPD-Mann Krüger kann sich zwar nicht vorstellen, wie er jetzt auch noch Wahlkampf machen soll, aber auf sein Wolfsburg lässt er nichts kommen. Die Bindungen werden ja auch schon früh gelegt, schon die Kleinsten lernen in der Kinderfahrschule auf Bobbycars den Konzern kennen. Und auch sonst: Die Autostadt, natürlich von VW, das Stadtbad von VW, das Planetarium, das neue Fußballstadion, der Fußballverein, der Eishockeyclub, die künftige Eisarena. Alles mitfinanziert von VW. Zu enge Verflechtungen, Filz? Sieht Krüger nicht.

"Soziale Ader" nennt er das Engagement und verweist auf die jährlich 550 Ausbildungsplätze, die VW zur Verfügung stellt, und für die das Zehnfache an Bewerbungen eingeht. Fast jeder Schulabgänger in Wolfsburg bewirbt sich bei VW. "Vor 15 Jahren waren wir eine reine Autostadt, jetzt sind wir die Erlebniswelt Wolfsburg", sagt Krüger und drängt: "Gehen Sie ruhig auch zum Oberbürgermeister, der ist von der CDU. Aber wir sind uns einig."

Rolf Schnellecke ist so groß wie Krüger, nur runder. Leidenschaftlich ist er auch und gebürtiger Wolfsburger sowieso. Der Oberbürgermeister, Jurist, hat 40 Jahre im öffentlichen Dienst hinter sich. Er kennt die Stadt. Und er sagt, was kaum jemand ausspricht: "Wir müssen ein Stück weit heraus aus der Abhängigkeit von VW, wir müssen uns emanzipieren." Das ist Schnelleckes Programm - natürlich im Konsens mit dem Konzern. Schnellecke sieht Wolfsburg auf einem Langstreckenlauf in eine erfolgreiche Zukunft, und nun kommt dieser dumme Skandal dazwischen. "Das ist schädlich, er überschattet unsere gelungenen Kraftakte." Das Institut "Prognos" hat Wolfsburg auf Platz eins beim Punkt Wachstumsdynamik gesetzt. Solche Erfolge will Schnellecke zementieren, will Touristen-, Dienstleistungs- und Gesundheitsstandort werden. Da stört das Feuer der aktuellen Kritiker sehr.

Gegen Morgen, wenn die Nachtschicht aus dem Werk fällt, ist die dunkle Tunnelkneipe schon geöffnet. Ab fünf Uhr. Gefrühstückt wird hier so wie zu Abend gegessen wird: Ein Bier, ein Korn. Ein Bier, ein Korn. Drüben in der Autostadt glänzen derweil die gläsernen Türme im aufgeheiterten Himmel. Dort ist noch alles menschenleer. Und drinnen glänzt die Welt des Autokonzerns. Zahlreiche bunte Globen zeigen VWs Universum. Über dem glatten Parkett erhebt sich eine riesige Weltkugel wie das Skelett eines Dinosauriers. Am Boden spiegelt sich diese konstruierte Welt und windet sich symbolisch in die Erde hinein. Wer nach unten guckt, dem schwindelts. Der gefühlte Abgrund ist tief. (Von Armin Lehmann) (tso)

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