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Vehementer Warner. Carl Friedrich von Weizsäcker wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Friedensforscher.

© picture alliance / dpa

100. Geburtstag: Anders Denken - Anderes Denken

Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker wäre am 28. Juni hundert Jahre alt geworden. Günter Nooke erinnert sich an seine Begegnungen mit dem Gelehrten und beschreibt, was Weizsäckers Werk für ihn bedeutet.

Carl Friedrich von Weizsäckers Denken und Leben spielten zwischen Physik, Philosophie, Politik und Religion. Ihm ging es um die Einheit der Natur; im (neu-)platonischen Sinne um das Eine. Weizsäcker war auf Wahrheitssuche. Er wusste: Wissen ist Macht. Aber auch: Der Besitz von Wahrheit führt in den Dogmatismus, die Leugnung von Wahrheit zum Nihilismus.

Zwei persönliche Perspektiven auf einen der größten Denker des 20. Jahrhundert seien ausgewählt, eine ostdeutsche und die eines philosophisch interessierten Physikers.

Ich erlebte Carl Friedrich von Weizsäcker in den 1980er Jahren in Halle und Leipzig, später am Starnberger See. Trotz Mauer besuchte er jede Jahresversammlung der Leopoldina und fand immer Zeit für die Studentengemeinde. Seine im doppelten Sinne freien und befreienden Reden waren Höhepunkte im geschlossenen Gesellschaftssystem der DDR. 1985 kam er zur 150-Jahr-Feier des Physikalischen Instituts Leipzig. Heute ist es kaum vorstellbar, was es für Studenten und Dozenten im Osten bedeutete, mit dem großen Physiker aus dem Westen persönlich zu sprechen. Auch Weizsäcker hatte sich in Leipzig promoviert und bei Werner Heisenberg habilitiert.

Natürlich war unsere Wahrnehmung durch die Diktatur bestimmt. Seine Rede, die er anlässlich des an ihn verliehenen Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1963 hielt, erschien zwar in der DDR. Aber die „Bedingungen des Friedens“ mit der visionären Vorstellung, im Zeitalter der Atombombe müsse alle Außenpolitik Weltinnenpolitik sein, lasen sich für uns im Osten anders als in der freien Welt. Sein „Weltbild der Physik“ bekam ich antiquarisch. „Der Garten des Menschlichen“ und „Die Tragweite der Wissenschaft“ waren dagegen in der Deutschen Bücherei noch unter Verschluss, als seine alte Universität ihm Ende der 1980er Jahre die Ehrendoktorwürde verlieh.

Dabei wurde der Friedensforscher Weizsäcker in der westdeutschen Öffentlichkeit eher als links wahrgenommen. Von 1970 bis 1980 leitete er gemeinsam mit Jürgen Habermas das Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg. Der Versuch eines Instituts für „unbequeme Fragestellungen“, das wissenschaftliche Politikberatung zur Lösung der Probleme der Welt anbieten wollte, scheiterte – obwohl zu vielen Fragen Wesentliches erkannt wurde. Aktuelle Relevanz haben etwa Überlegungen zur gegenseitigen Abschreckung aus dieser Zeit auch für einen Konflikt zwischen atomar bewaffneten Staaten wie Iran und Israel.

Für die vielen, die Weizsäcker nicht mochten, zeigte sich darin einmal mehr seine Hybris und seine „Verrücktheit“, wie er nachträglich seine Mitarbeit am deutschen Uranprojekt zur Erforschung der Kernspaltung während des Zweiten Weltkriegs interpretierte. Weizsäcker meldete dazu sogar ein Patent an, von dem er erst berichtete, als die Dokumente auftauchten. Er wollte die Macht des Wissens um den Bau einer Atombombe nutzen, um mit Hitler zu reden. Im Nachhinein war er reflektiert genug, um sagen zu können: Gott sei Dank sei ihm diese Versuchung erspart geblieben.

Es wäre zu kurz geschlossen, in Weizsäckers friedenspolitischem Engagement nach 1945 nur die Reaktion auf sein Verhalten im „Dritten Reich“ zu sehen. Seine Aufforderung zu einem Konzil des Friedens auf dem Düsseldorfer Kirchentag 1985 und sein Engagement waren für mich und viele Menschen in der DDR ein Grund, die Ökumenische Versammlung für „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ für einen ernsthaften Diskurs zu nutzen. Es ging um Gerechtigkeit in der DDR, die Nutzung von Braunkohle und Kernenergie, Entwicklungspolitik oder militärische Abschreckung. Dieser diskursive Prozess war ein wesentlicher Beitrag im Vorfeld der friedlichen Revolution vom Herbst 1989.

Meine zweite Perspektive betrifft die philosophischen Konsequenzen der Quantentheorie. Keine Philosophie, sondern eine mathematische Theorie mit exakten Begriffen zwingt uns anzuerkennen, dass für eine Erfahrungswissenschaft wie die Physik die alte Unterscheidung von Subjekt und unabhängiger Realität aufgegeben werden muss.

Erfahrung heißt, aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen. Sie setzt ein bestimmtes Verständnis von der Zeit voraus. Die Quantentheorie liefert genaue Aussagen über Fakten in der Vergangenheit und zu den Wahrscheinlichkeiten des Eintritts zukünftiger Ereignisse. Ja, es geht nur um Möglichkeiten. Die Zukunft ist offen und nicht determiniert. Welche Möglichkeiten „realisiert“ werden, hängt von unseren physikalischen Experimenten ab; in philosophischer Verallgemeinerung von unserem Handeln! Welch eine Herausforderung und Chance für persönliche Verantwortung!

Weizsäcker dachte weiter und fragte: Keiner zweifelt an der universellen Gültigkeit der Quantentheorie und kein einziges Experiment widerlegte diese Erfahrungswissenschaft bisher. Was wäre, wenn die Theorie im Sinne Kants, der noch von der Newton’schen Mechanik ausging, ganz allgemein die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung formulierte?

Weizsäcker hatte einen genialen Gedanken: Er postulierte „Ure“ – „Objekte“, die eine einzige Eigenschaft haben, nämlich auf unsere Fragen mit Ja oder Nein zu antworten. Heute spricht man von Quantenbits. Daraus sollte sich mit dem mathematischen Apparat der Quantentheorie die ganze Physik aufbauen lassen. Sie bildet für Weizsäcker den harten Kern der Naturwissenschaft. Damit sind folglich all unsere Erfahrungswissenschaften wie Chemie oder Biologie, eigentlich alle komplexen Systeme, von denen wir glauben, sie in begrifflich exakter Sprache beschreiben zu können, gegründet auf eine logisch entscheidbare Alternative.

Erst mit der Messvorschrift werden bestimmten Größen aus der Theorie die uns bekannten „natürlichen Gegenstände“ der Physik zugeordnet. Beispiel: Die Versuchsanordnung der Quantenphysiker entscheidet darüber, ob der Teilchen- oder der Wellencharakter der Materie nachgewiesen wird. Der Mathematik fehlt eine solche Semantik, deshalb ist sie eine Geisteswissenschaft.

Wir hängen in der Sprache, sagte Nils Bohr. Das Denkgebäude bestimmt, welche Bedeutung welcher Begriff bekommt. Daraus ergeben sich handfeste Konsequenzen. Weizsäckers Freund, der Religionsphilosoph Georg Picht, formulierte: Wir handeln falsch, weil wir falsch denken. Dieses andere Denken würde uns zum Beispiel zwingen, über die Unsinnigkeit des Gegeneinanders verschiedener Wissenschaftsdisziplinen an den Universitäten nachzudenken oder die Finanzierung milliardenteurer Teilchenbeschleuniger für Kernphysiker infrage zu stellen.

Am 28. Juni 2012 wäre der Wegbereiter solcher Gedanken 100 Jahre alt geworden. Vielleicht muss ein weiteres Jahrhundert vergehen, ehe wir sie verstehen.

Der Autor ist Physiker und Afrikabeauftragter der Bundeskanzlerin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Günter Nooke

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