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Demo gegen den Bildungsplan in Stuttgart

© picture alliance / dpa

Alternative für Deutschland (AfD): „Arrest für Schüler, Zwangsarbeit für Eltern“

Familie, Schule, Wissenschaft: Der Soziologe Andreas Kemper erklärt im Interview, wo die AfD steht – und wie sie sich Einfluss verschafft.

Herr Kemper, die AfD ist als Anti-Euro-Partei gestartet, inzwischen besetzt sie die Themen Zuwanderung und Kriminalität. In Ihrer Studie erforschen Sie die AfD nun als Familienpartei. Welche Rolle spielt das Thema für die AfD?
Frauke Petry aus dem Bundesvorstand der AfD hat im sächsischen Wahlkampf deutlich gemacht, dass die AfD eine „Familienpartei“ sei. Und Familienpolitik, das dürfe man heute ja wieder sagen, sei „Bevölkerungspolitik“. Entsprechend hat sie eine Drei-Kinder-Familienpolitik gefordert, die sie mit einem Volksentscheid zur Abtreibungspolitik verbunden hat. Und auch in den Landeswahlprogrammen war die Familienpolitik der Schwerpunkt. Interne Umfragen der AfD machen deutlich, wie wichtig den Mitgliedern dieses Thema ist.

Sie kritisieren, die AfD habe ein besonders eingeschränktes und normatives Familienbild, das zudem hoch elitär sei. Woran machen Sie das fest?

Die AfD will die Rechte ausländischer Familien einschränken, sie erkennt keine schwul-lesbischen Regenbogenfamilien an, sie stellt die vermeintlich „funktionierende“ Familie mit Vater, Mutter, Kindern in den Mittelpunkt, Alleinerziehende haben nicht viel von der AfD zu erwarten. Und schließlich will die AfD vor allem die gut verdienende Mittelschichtfamilie privilegieren, etwa durch „Familiensplitting“, und „Kinderrente“. Das geht zulasten von geringverdienenden Eltern, die zudem noch unter der angekündigten Sparpolitik der AfD zu leiden hätten. Die AfD ist also keinesfalls familienfreundlich, sondern betreibt eine Bevölkerungspolitik zugunsten eines bereits mehrfach privilegierten Milieus.

Andreas Kemper. Der 51-jährige Soziologe untersucht im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung familien- und geschlechterpolitische Positionen der Alternative für Deutschland (AfD).
Andreas Kemper. Der 51-jährige Soziologe untersucht im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung familien- und geschlechterpolitische Positionen der Alternative für Deutschland (AfD).

© promo

In Ihrer Expertise untersuchen Sie europäische Netzwerke zur Geschlechter- und Familienpolitik. Wo gibt es Verbindungen zur AfD?

Die „Zivile Koalition“ ist ein umfangreiches Kampagnennetzwerk von Beatrix von Storch, die für die AfD ins Europäische Parlament eingezogen ist. Zu diesem Netzwerk gehören Plattformen wie „Familien-Schutz.de“ oder „demo-für-alle.de“. Die europäische Anti-Abtreibungs-Initiative „Einer von uns“ wurde in Deutschland von der „Zivilen Koalition“ koordiniert. Auch beim Kampf gegen den europäischen Bericht für reproduktive Rechte war die „Zivile Koalition“ führend. Außerdem gibt es Verbindungen zu den Organisatoren und Organisatorinnen der großen homophoben Demonstrationen, die unter dem Label „Demo für alle“ in Paris stattfanden. Die „Zivile Koalition“ versucht diese Demonstrationen nach Deutschland zu importieren. So finden seit einigen Monaten auch in Stuttgart „Demos für alle“ statt. Dahinter steckt die „Zivile Koalition“, und die Vorstände der AfD unterstützen das.

Als Familienpartei wendet die AfD sich folgerichtig der Bildungspolitik zu. Wie weit ist die Programmatik für die Schule gediehen?

Nach außen hin vertritt die AfD die Position, Erziehungsrecht sei Elternrecht. Das gilt dann allerdings eher für die gutverdienende Mittelschicht. „Schlecht erzogene Hauptschüler“ (Bernd Lucke) erwartet eine hochselektive Disziplinierung und „Nacherziehung“. In offiziellen Landesprogrammen wird mehr Disziplin in Schulen gefordert. In internen Papieren finden sich dann Forderungen nach bürgerlichen Leitbildern. Verstoßen die Schüler und Schülerinnen dagegen, werden sie in „Benimmkursen“ ausgesondert. Eltern haben diese „Nacherziehung“ zu bezahlen, sind sie dazu nicht in der Lage, müssen sie mit Zwangsarbeit die Kosten dieser „Dienstleistung“ an Schulen abarbeiten. Wenn sich die Kinder in den Benimmkursen nicht benehmen, werden sie nach einer ersten Ermahnung zu Jugendarrest bis zu vier Wochen verdonnert.

",Mut zu' - eine Erkennungsformel für aggressive Rückwärtsgewandheit"

Das klingt erst mal unfreiwillig komisch. Wie ernst ist das zu nehmen?

Wir hatten diese „Pädagogik“ schon einmal vor hundert Jahren mit den Korrektionsanstalten. Noch 1978 fand ein Kongress statt, der eine Rückkehr in die Pädagogik der Sekundärtugenden und der Disziplinierung forderte. Der Kongress hieß übrigens „Mut zur Erziehung“. „Mut zu ...“ ist eine Erkennungsformel aggressiver Rückwärtsgewandtheit. Wir finden eine ähnliche Denkweise auch bei Thilo Sarrazin in „Deutschland schafft sich ab“.

Für Eltern von Kleinkindern fordert die AfD Sachsen ein „Betreuungshonorar“. Was hat es damit auf sich?

Es sollen alle Kosten, die staatlicherseits für Kleinkinderbetreuung ausgegeben werden, anteilig als „Honorar“ für Eltern von Kleinkindern ausgegeben werden. Das heißt, Länder und Kommune halten sich fortan komplett aus der Betreuung von Kleinkindern raus. Sie zahlen nur Eltern dieses Honorar.

Die AfD in Sachsen und in Thüringen behauptet, es gebe „indoktrinäre Beeinflussungen“ der Lehrinhalte in der Schule durch Homosexuelle und Transgender. Im Schulalltag hängt es aber von einzelnen Lehrkräften ab, ob diese Gruppen überhaupt erwähnt werden. Und auf den Schulhöfen ist „schwul“ ein beliebtes Schimpfwort. Welches Ziel verfolgt die AfD damit, eine Bedrohung durch Homosexuelle heraufzubeschwören?

Da müsste man differenzieren. Bei den normalen AfD-Mitgliedern, die gegen Homosexuelle vorgehen, liegt wohl einfach Homophobie vor. Bei den politisch vernetzten Aktivisten und Aktivistinnen sehe ich eher, dass sie langfristig eine andere bevölkerungspolitische Familienpolitik anstreben, durch die reproduktive Rechte massiv zurückgedrängt werden sollen.

Auch in der Auseinandersetzung um den Bildungsplan in Baden-Württemberg hat sich die AfD stark engagiert. Sie lehnte ab, dass Schüler zur Reflektion über sexuelle Identitäten angeregt werden sollten. Die Landesregierung hat ihre Pläne inzwischen modifiziert. Ist sie vor dem Protest eingeknickt?

Ich halte diese Modifizierung für einen Fehler. Sie hat diese Demonstrationen eher gestärkt als geschwächt. Wahrscheinlich zeigten sich die zuständigen Politiker und Politikerinnen beeindruckt von den Protesten, den Massenmails und Leserbriefen. Die Organisationen hinter den Demonstrationen werden aber erst aufgeben, wenn ihre Vorstellungen von Bildungspolitik umgesetzt werden – und die sind fundamentalistisch-christlich.

Gleichstellungspolitik, wie das Grundgesetz sie verlangt, lehnt die AfD ab

Die AfD attackiert auch die Verpflichtung der Politik, bei ihren Entscheidungen zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern beizutragen („Gendermainstreaming“). Den Auftrag, die Gleichberechtigung tatsächlich durchzusetzen, hat das Grundgesetz dem Staat aber schon vor zwanzig Jahren erteilt. Warum steht das Thema auf der Agenda der AfD jetzt so weit oben?

Die AfD ist grundsätzlich gegen Gleichstellungspolitik. Das entspricht der Einstellung ihrer Parteimitglieder. Dass sie sich vor allem gegen Gendermainstreaming wenden, hat damit zu tun, dass die Frauen- und die Homosexuellen-Bewegung inzwischen auch staatlicherseits ernst genommen wird.

Die AfD in Sachsen möchte die Geschlechterforschung („Gender studies“) an den Hochschulen abschaffen. Strebt die AfD auch in der Stammzellforschung Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit an?

Ja. Die Förderung embryonaler Stammzellenforschung gehöre nicht in den Verantwortungsbereich der EU, sagt die AfD in ihrem Europawahlprogramm.

Lebenswissenschaftler alarmiert vor allem die europäische Bürgerinitiative „Einer von uns“. Die Initiative ist im Juni aber mit einer Aktion im EU-Parlament gegen die Förderung von Forschung mit Stammzelllinien gescheitert. Ist die Bewegung also geschwächt?

Nein, sie ist dadurch keinesfalls geschwächt. Kampagnennetzwerke wie die „Zivile Koalition“ oder ihr Äquivalent „CitizenGo“ aus Spanien bauen mit solchen Kampagnen wie „Einer von uns“ ihre Reichweite und Vernetzung aus. „Einer von uns“ sammelte 1,7 Millionen Unterschriften. Die Ziele ihrer Petitionen wurden zwar von der Europäischen Kommission abgelehnt, aber hier war auch der Weg das Ziel: die Vernetzung einer fundamentalistisch-christlichen europäischen Bewegung.

Erfolgreich waren christlich-fundamentalistische Gruppen und auch die AfD im vergangenen Jahr, als sie den Estrela-Bericht der EU verhinderten. Er sollte den neuen Mitgliedsstaaten in Ost- und Südeuropa empfehlen, das Recht auf Abtreibung und die Sexualerziehung für Jugendliche zu verankern. Wie konnten die Gruppen solchen Einfluss gewinnen?

Neil Datta vom Europäisch-parlamentarischen Forum für Bevölkerung und Entwicklung drückte es so aus: Wenn eine Bombe explodiert, rennen erst einmal alle verängstigt auseinander. Kampagnennetzwerke wie „Zivile Koalition“ und „CitizenGo“ haben eine Strategie aus den USA übernommen, die dort schon lange praktiziert wird. Es werden Massenproteste simuliert, die aussehen wie eine sich spontan entwickelnde Graswurzelbewegung. In den USA werden diese Simulationen „Astroturfing“ genannt, abgeleitet von Astroturf, was Kunstrasen heißt. Die „Zivile Koalition“ hat seit ihrer Gründung mit einem rechtspopulistischen Adressenhändler zusammengearbeitet. Auf Seiten wie „Spam.de“ melden sich immer wieder empörte Blogger, die Spammails von der „Zivilen Koalition“ erhielten. Zudem können wir in den Sozialen Medien und in den Kommentarspalten der Internetausgaben von Zeitungen eine Welle von enttabuisierten Kommentaren feststellen, das sogenannte Hate Speech, Hass-Sprache gegen Minderheiten. Und zu dieser Strategie gehört das Verbreiten von Falschmeldungen, sogenannte Hoaxes. Diese überzeichnen oder bringen komplett falsche Darstellungen, über die sich dann mit Hate Speech umso besser echauffiert werden kann. Hoaxes spielten in den Mobilisierungen für die großen homophoben Demonstrationen in Paris eine Rolle.

Sie legen nahe, dass die AfD sich einer speziellen Rhetorik bedient. Worum handelt es sich hier?

Die AfD kann sich auf die Anfang der 1990er Jahre in den sogenannten Culture-Wars entwickelte „Anti-PC-Strategie“ stützen. Die AfD nimmt eigentlich rückwärtsgewandte Positionen ein, für eine stärkere Disziplinierung und für den Vorrang von Sekundärtugenden gegenüber Tugenden wie Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Die Strategie besteht darin, die Spießigkeit, die in den Forderungen steckt, emanzipatorischen Forderungen entgegenzuhalten. Der Spieß wird umgedreht. Eine Sexualpädagogik der Vielfalt wird zur Tyrannei und Umerziehung, weil ja diejenigen, die gegen Vielfalt sind, unterdrückt werden. So können Aktivistinnen, die mit den Legionären Christi zusammenarbeiten, die eine Pädagogik der Heiligenverehrung und Beichte vertreten, als „neue Feministinnen“ auftreten.

Die Fragen stellten Amory Burchard und Anja Kühne. - Andreas Kempers Expertise für die Friedrich-Ebert-Stiftung „Keimzelle der Nation? Familien- und geschlechterpolitische Positionen der AfD“ vom März 2014 ist im Internet zu finden (http://library.fes.de/pdf-files/dialog/10641-20140414.pdf). Der zweite Teil soll demnächst veröffentlicht werden.

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