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Auch Anfang September löste ein Erdbeben in Nordkorea Befürchtungen über einen möglichen neuen nordkoreanischen Atomtest aus.

© dpa/ Eugene Hoshiko

Atombombentests in Nordkorea: Ein Fingerabdruck jeder Erschütterung

Hat Nordkorea wieder eine Atombombe getestet? Gar eine Wasserstoffbombe? Oder war es nur ein Beben? Forscher kennen die Signatur jeder Erschütterung.

Um 6:30 Uhr brummt das Handy. Unwillig dreht sich Lars Ceranna auf die Seite, es ist Sonntag. Doch die Sache lässt ihm keine Ruhe. Verschlafen liest er die Nachricht – und ist schlagartig hellwach. Zwei Minuten später telefoniert der Geowissenschaftler mit der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen. Dann eilt er ins Büro.

Herr der Beben

Wenn irgendwo auf der Welt eine Atombombe explodiert oder die Erde bebt, erfährt es Lars Ceranna als einer der Ersten. Die Nachricht auf dem Handy des Seismologen von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) stammt von einem Computer, der am 3. September um 5:30 Uhr deutscher Zeit ein Erdbeben in der Flinn-Engdahl-Region 659 registriert hat. Eine Stunde braucht die Software, um alle Daten aus hunderten von Messstationen zu verarbeiten, bevor sie Ceranna per SMS informiert. Und der Forscher weiß sofort: 659 steht für Nordkorea. Die Stärke der Erschütterung, die ihm der Computer meldet, ist diesmal größer als alles, was je zuvor in dieser Region gemessen wurde. Ceranna beschleicht ein mulmiges Gefühl. Er ahnt: Das war kein Beben.

Im Büro angekommen, beeilt sich Cerannas Team, die Daten auszuwerten. Es gilt, rasch zu einem Ergebnis zu kommen, was in Nordkorea passiert ist. Denn die BGR ist nicht nur ein Forschungsinstitut, sondern auch die Behörde, die für die Regierung im Fall von Kernwaffentests die Lage einschätzt. Das Regime in Nordkorea hat in den letzten elf Jahren nach eigenen Angaben fünf Atomwaffentests durchgeführt. War das nun der sechste? Diese Frage wird Ceranna an diesem Vormittag oft gestellt, vom Auswärtigen Amt, dem Wirtschafts- und Außenministerium. War es eine Explosion oder doch nur ein Erdbeben? Und wenn es ein Sprengsatz war, war es tatsächlich eine Wasserstoffbombe, wie es Nordkoreas Staatschef Kim Jong-un behauptet?

Solche Fragen stellen sich jedes Mal, wenn in Nordkorea die Erde bebt. Am Morgen des 3. September sprachen schnell viele Anhaltspunkte für eine Detonation. „Sehr wichtig ist der Ort“, sagt Ceranna. „Wir wissen genau, wo Nordkorea seine Atomwaffen testet.“ In der Gebirgsregion um das Testgelände Punggye-ri im Nordosten sind seismische Aktivitäten sehr selten. Wenn es dennoch zu einer Erschütterung kommt, breitet sich deren Impuls über Land, Wasser und die Luft aus.

Ein weltweit verteiltes Netz an Messstationen kann den Ursprungsort dann genau bestimmen. Aus der Stärke und Dauer der Schwingungen ergibt sich ein charakteristischer Kurvenverlauf, ein Seismogramm. Bei einem Erdbeben zeigt es anfangs nur kleinere P-Wellen, die schnellen Vorboten der langsameren, aber energiereichen und zerstörerischen Oberflächenwellen. „Bei einer Explosion hingegen schlägt das Messgerät nur am Anfang stark aus, wenn die Druckwelle es erreicht“, erklärt Ceranna. Genau dieses Muster zeigt die Kurve am 3. September.

Am 1. November 1952 zündeten die USA mit „Ivy Mike“ die erste Wasserstoffbombe. Dem starken Ausschlag der Seismografen nach, könnte auch Nordkorea am 3. September 2017 erstmals einen solchen Waffentyp getestet haben.
Am 1. November 1952 zündeten die USA mit „Ivy Mike“ die erste Wasserstoffbombe. Dem starken Ausschlag der Seismografen nach, könnte auch Nordkorea am 3. September 2017 erstmals einen solchen Waffentyp getestet haben.

© X00561/US Air Force

Im BGR werden alle Daten gesammelt, die von den 321 gleichmäßig über den Globus verteilten Stationen des internationales Überwachungsnetzes IMS gemessen werden. Seit 1996 wird IMS aufgebaut, um die Einhaltung des Kernwaffenteststoppabkommens CTBT (Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty) zu kontrollieren, das die Durchführung von Atomtests unter der Erde, unter Wasser und in der Atmosphäre verbietet. So erfährt Ceranna von jedem noch so kleinen Zittern der Erdkruste. Selbst in den Meeren messen hydroakustische Stationen auffällige Schwingungen. Und sollte Nordkorea die Drohung wahr machen, die nächste Bombe oberirdisch zu zünden, würden Infraschallstationen die Detonation registrieren.

Nach 11 Minuten waren die Schwingungen in Deutschland

Die Explosion am 3. September war so stark, dass alle seismischen Stationen sie erfassen konnten. Im Bayerischen Wald kamen die Signale aus dem 8000 Kilometer entfernten Nordkorea elfeinhalb Minuten nach der Detonation an. Und die Schwingungen waren so stark, dass die Explosion stärker als alle bisherigen Tests des Regimes in Pjöngjang gewesen sein muss. Viel stärker: Sie lag eine ganze Magnitude über den Werten des bis dato letzten Tests vom 9. September 2016. Damit setzte die Bombe mehr als dreißig mal so viel Energie frei wie die letzte.

Um die Zerstörungskraft eines Sprengsatzes besser einschätzen zu können, wird sie in der Regel mit der Wirkung von TNT verglichen, einem herkömmlichen chemischen Sprengstoff. „Bei Nordkorea tappen wir da allerdings ein bisschen im Dunkeln“, sagt Ceranna. „Weil sie uns nicht sagen, wie stark die Bomben sind, die sie testen, können wir die Sprengkraft nur schätzen.“ Das ist auch deshalb schwierig, weil die Nordkoreaner die Bomben unter einem Bergmassiv zünden, vermutlich ein Basaltkomplex. Dieses massive Gestein überträgt die Energie der Bombe besonders gut. Aber gerade das verleitet die Experten dazu, die Sprengkraft womöglich zu überschätzen.

Die BGR gibt für den Test vom 3. September daher eine vorsichtige Schätzung der Sprengkraft von „wenigen hundert Kilotonnen TNT“ an. So etwas lässt sich nicht ohne eine Atombombe erreichen. „Für eine Sprengkraft von 100 Kilotonnen TNT müsste man 22 olympische Schwimmbecken mit Ammoniumnitrat-Diesel-Gemisch füllen und dann auch noch zeitgleich sprengen“, sagt Ceranna. Den Platz für eine solche Sprengung müsse man erstmal schaffen und den Abraum entsorgen. „Das hätte man auf den Satellitenbildern gesehen.“

Atombombe ja, Wasserstoffbombe vielleicht

Schon aufgrund der Sprengkraft ist die Explosion vom 3. September also mindestens von einer Atombombe ausgelöst worden. Allerdings einer extrem starken. Zum Vergleich: Die beiden Atombomben, die die USA 1945 über Hiroshima und Nagasaki abwarfen, hatten eine Sprengkraft von „nur“ 15 beziehungsweise 21 Kilotonnen TNT. Handelte es sich also, wie der nordkoreanische Diktator behauptet, um eine Wasserstoffbombe? Sie beruht im Gegensatz zu einer „normalen“ Atombombe, bei der Energie durch Kernspaltung frei wird, auf dem Prinzip der Kernfusion, wie sie auch im Inneren der Sonne stattfindet. Damit dieser Prozess jedoch in Gang kommt, sind enorm hohe Temperaturen nötig. Deshalb werden Wasserstoffbomben immer mit einer kleinen Atombombe gekoppelt, die zuerst explodiert und so die Temperatur für die Kernfusion erzeugt.

Ceranna kann weder das eine, die Kernspaltung, noch das andere, die Kernfusion, nachweisen. Dafür müsste das Messnetz radioaktive Stoffe von der Explosion in der Atmosphäre einfangen. Solche Radionuklide entstehen bei der Kernspaltung und können dann nach oben an die Erdoberfläche gelangen. Das Edelgas Xenon ist so ein Kandidat. Vierzig der IMS-Stationen sind mit entsprechenden Detektoren ausgestattet und würden sofort Alarm schlagen, sobald eine Xenon-Wolke an ihnen vorbeizieht. Die nächste Station, die dafür in Frage kommt, befindet sich im japanischen Takasaki.

Doch obwohl der Wind bislang günstig stand, hat sie bis jetzt kein Xenon gemessen. Dazu kommt, dass Xenon sowohl bei einer Atombombe als auch bei einer Wasserstoffbombe entstehen würde, da ja auch im zweiten Fall zuerst eine kleine Atombombe gezündet wird. Zur eindeutigen Unterscheidung taugt das Gas also nicht. Bleiben noch die Spaltprodukte Tritium und Argon-37. Sie entstehen bei einer Kernfusion in viel größerer Menge als bei einer Kernspaltung. Beides können die IMS-Stationen allerdings nicht messen, das wäre technisch zu aufwendig. Außerdem ist immer noch Tritium in der Luft nachweisbar, das bei atmosphärischen Nukleartests in den 60er Jahren entstanden ist und die Messungen behindern würde.

Warten auf Xenon

Die letzte Möglichkeit für den Nachweis einer Wasserstoffbombe wären Bodenproben vor Ort, die der Kernwaffenteststoppvertrag in solchen Fällen vorsieht. Dort sind die Spaltprodukte noch nicht so verdünnt wie in der Atmosphäre. Dass Nordkorea das zulässt, ist aber nicht zu erwarten. Auch wenn die Welt die Frage nach der Art der Bombe umtreibt, „den letzten Beweis werden wir nie bringen können“, sagt Lars Ceranna. „Deshalb wäre es für einen Forscher unverantwortlich, einfach rauszugehen und zu sagen: Das war eine Wasserstoffbombe.“

Ein bisschen wurmt es die Forscher der BGR aber doch, dass sie bis jetzt noch keine Spaltprodukte messen konnten. Während die Öffentlichkeit schon den nächsten Atomtest Nordkoreas befürchtet, wird sich Cerannas Team noch eine Weile mit der Analyse der letzten Explosion beschäftigen. Gerade untersuchen sie vor allem das mutmaßliche Nachbeben, das am 23. September als Spätfolge des letzten Tests stattgefunden haben könnte. Sollte sich diese Annahme bewahrheiten, könnten sich dadurch Risse im Gestein ergeben. Durch sie könnte bis jetzt eingeschlossenes Xenon noch Wochen später an die Oberfläche gelangen. Falls das geschieht, wird Lars Ceranna wieder einer der Ersten sein, die davon erfahren.

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