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Krieg und Keime. Die Entwicklung biologischer Waffen wurde 1942 auf Befehl Hitlers eingestellt. Das Foto zeigt einen Laboranten in einem Feldlabor der Wehrmacht bei der Herstellung eines Nährbodens für Bakterienkulturen 1942 in der besetzten Sowjetunion.

© Ullstein Bild

B-Waffen: An der Schwelle zum Biokrieg

Eine Falschmeldung führte vor 75 Jahren dazu, dass die deutsche Forschung an Biowaffen beendet wurde – auf Weisung Hitlers.

Vor 75 Jahren ging beim deutschen militärischen Nachrichtendienst, der Abwehr, eine spektakuläre Meldung ein. Unter dem Betreff „USA – Versuche mit Bakterien/Lieferungen nach England“ wurde berichtet, dass ein anglo-amerikanischer Angriff mit biologischen Kampfmitteln bevorstehe. Nach Meinung zweier zuverlässiger Quellen „sei völlig sicher Folgendes bekannt: Lt. Col. Randall J. Hogan vom Chemical Warfare Service flog in den letzten Tagen März mit 2 Spezialisten mit einem B24 Überführungsbomber via N. F. nach England. Sie nahmen mit: a) in einigen Kisten insgesamt ca. 15 000 St. Kartoffelkäfer (Coloradokäfer) und b) eine Kiste mit Texas-Zecken. In der zweiten Aprilwoche fliegt eine weitere Sendung ab.“ Die Tiere sollten demnächst von Flugzeugen über Kartoffeläckern und Weideflächen abgeworfen werden, wurde in der Meldung behauptet.

Intensives Biowaffen-Programm in den USA

Das waren, wie man heute sagen würde, Fake News. Die USA betrieben zu dieser Zeit gemeinsam mit ihren britischen und kanadischen Verbündeten ein intensives Biowaffen-Programm. Milzbrandbakterien und Botulinus-Toxin standen dabei im Vordergrund, 16 weitere Krankheitserreger und Toxine wurden außerdem erforscht. Aber weder Kartoffelkäfer noch Texas-Zecken, die Erreger des Texas-Fiebers der Rinder, waren dabei. Doch das konnte vor den Deutschen erfolgreich verborgen werden.

Die Meldung über den bevorstehenden Einsatz wurde überaus ernst genommen. Der Oberkriegsarzt Professor Dr. Heinrich Kliewe, der mit der „Bearbeitung aller Fragen des B-Krieges“ beauftragt worden war, konsultierte die einschlägigen deutschen Experten und teilte der Abwehr daraufhin mit, Kartoffelkäfer könnten tatsächlich erhebliche Schäden anrichten, insbesondere wenn sie im Sommer verbreitet würden, sodass sie noch ihre Eier ablegen könnten.

Hitler lehnte Biowaffen "scharf ab"

Zwar bedeuteten die Schädlinge „keine Gefahr für die Gebiete westlich der Elbe, da dort ein behördlich vorgeschriebener Abwehrdienst eingerichtet ist. In den Gebieten östlich der Elbe könnte die Kartoffelernte erheblich beeinträchtigt werden.“ (Dort grassierten nach Kriegsende tatsächlich die gefürchteten Kartoffelschädlinge. Das war aber auf deren natürliche Verbreitung und auf die Unfähigkeit der ostdeutschen Behörden und das Versagen des Kartoffelkäferabwehrdienstes zurückzuführen und nicht, wie die DDR-Regierung 1960 behauptete, auf den Abwurf von „Amikäfern“.)

Anthrax-Kekse. Mit Milzbranderregern versetztes Rindertrockenfutter, das in England als Biowaffe gelagert wurde, aber nicht zum Einsatz kam.

© Def. Eval. and Res. Agency

Wegen Kliewes Einschätzung wurde die Meldung nicht einfach zu den Akten gelegt, sondern nach oben weitergereicht, bis ganz nach oben: Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, unterrichtete sogar Hitler über den angeblich bevorstehenden biologischen Angriff. Das aber hatte überaus überraschende Folgen. Am 23. Mai 1942 gab der für biologische und chemische Kriegführung zuständige „General der Nebeltruppen“ Hermann Ochsner ausdrücklich unter Bezug auf den Bericht der Abwehr („Betr.: USA-Versuche mit Bakterien/Lieferungen nach England“) in einer „geheimen Kommandosache“ bekannt, „dass der Führer nach Vortrag des Herrn Chef OKW befohlen hat, dass unsererseits Vorbereitungen für einen Bakterienkrieg nicht zu treffen sind“. Selbst den Einsatz von Agenten zur insgeheimen Verbreitung biologischer Kampfmittel lehnte Hitler „scharf ab“, nachdem dies im Februar 1943 vom Wehrmachtsführungsstab vorgeschlagen worden war.

Angst vor Vergeltungsschlägen?

Welche Motive Hitler zu dieser folgenschweren, ja wohl historischen Entscheidung bewogen hatten, ist unbekannt. Hitler war kein Gegner von Massenvernichtungsmitteln und schreckte vor millionenfachem Mord nicht zurück. Zu einem Befehl zum Einsatz chemischer Waffen gegen die Sowjets kam es wohl nur deshalb nicht, weil die logistischen Voraussetzungen fehlten. Und wegen seiner Angst vor gleichartigen Vergeltungsschlägen der Gegner. Das war wohl auch der Hauptgrund für seine plötzliche, bis Kriegsende gültige Entscheidung, die ohnehin geringfügigen Vorbereitungen zur biologischen Kriegführung zu stoppen.

Den Westalliierten blieb das bis Kriegsende verborgen, und später machten sie kein Aufhebens davon. Zwar konnten die einschlägigen Dokumente 1945 in einem Klosterkeller im bayerischen Niederviehbach entdeckt werden, aber sie blieben jahrzehntelang gesperrt.

Auf dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess wurde das Thema weitgehend heruntergespielt – nein, „alternativ wahrheitsgemäß“ behandelt. Widerspruchslos durfte der in sowjetischer Kriegsgefangenschaft zum falschen Zeugen präparierte Generalarzt Walter Schreiber aussagen, auf Anordnung Hitlers sei 1943 ein offensives deutsches Bio-Waffenprogramm beschlossen worden, speziell die „Vorbereitung des bakteriologischen Krieges mit Erregung der Pest“. Er habe an der entscheidenden Konferenz im Juli 1943 teilgenommen.

Schreibers Teilnahme ist belegt, das andere gelogen. Ausweislich des Sitzungsprotokolls, das auch in dem Klosterkeller wohlbehalten gefunden worden war, wurde auf dieser Konferenz über die Vorbereitung von Schutzmaßnahmen gegen befürchtete gegnerische B-Waffen-Angriffe gesprochen, und zwar unter ausdrücklicher Berufung auf Hitlers Verbot.

Militärs experimentierten trotz Verbot mit biologischen Kampfmitteln

Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass einflussreiche Naziführer, Militärs und Wissenschaftler mit Hitlers Verbot nicht einverstanden waren. Sie versuchten, ihn umzustimmen und hinter seinem Rücken sogar – wenn auch wegen der Gesetzwidrigkeit ihrer Handlungen in bescheidenem Rahmen – einige offensiv motivierte Versuche mit biologischen Kampfmitteln durchzuführen.

Unter dem einleuchtenden Motto „Man muss sich einmal selbst angreifen, um die Schutzmaßnahmen richtig beurteilen zu können“ (das biologische Rüstungskontrolle bis heute erheblich erschwert) erfolgten ohne Wissen des „Führers“ unter anderem Abwurfversuche mit Kartoffelkäfern, einmal sogar mit Holzmodellen der Schädlinge. Aber das hielt sich sehr in Grenzen und führte nicht zum militärischen Einsatz.

Jedenfalls hatte Hitlers offenbar einsame Entscheidung zur Folge, dass es auf dem europäischen Kriegsschauplatz nicht zu biologischen Kriegshandlungen kam. Die Angloamerikaner brauchten die fünf Millionen „cattle cakes“ – Rindertrockenfutter, von denen jedes eine tödliche Dosis Milzbrandbakterien enthielt –, die im April 1943 abwurfbereit in englischen Arsenalen lagerten, nicht als Vergeltung für entsprechende deutsche Angriffe über deutschen Weiden abzuwerfen – und auch die 500 000 mit Milzbranderregern gefüllten „N“-Bomben, die in den USA produziert wurden, kamen nicht zum Einsatz. In diesem Fall hatte eine Fake-Meldung also mal etwas Gutes.

Frankreich experimentierte mit Milzbrand-Erregern

Es hätte auch ganz anders kommen können, ebenfalls wegen einer Geheimdienstmeldung. Die entsprach diesmal zwar der Wahrheit, wurde aber von den Experten nicht richtig ernst genommen.

Im April 1938 hatte die „Abwehr“ einen geheimen französischen Zwischenbericht über militärische Versuche mit Milzbrandbakterien erhalten. Die „garantieren schwere irreparable Schädigungen der gegnerischen Versorgung“. Man habe sie schon seit Jahren erfolgreich züchten können und herausgefunden, wie man sie wirksam vom Flugzeug aus verbreiten könne.

Daraufhin wurden mehrere Experten um ihre Meinung gebeten. Sie hätten unterschiedlicher nicht sein können. Generaloberstabsveterinär Professor Curt Schulze antwortete, dass Milzbrandsporen – die Dauerformen dieser Erreger – „von allen bekannten Erregern zu den am besten für einen bakteriologischen Krieg geeigneten“ gehören (was sich bis heute nicht geändert hat). Sie ließen sich ohne Schwierigkeiten massenhaft verbreiten.

Das wurde von zwei anderen Experten, Geheimrat Professor Robert von Ostertag und Oberstabsveterinär Professor C. Eduard Richters, Chef des Heeres-Veterinäruntersuchungsamtes, bezweifelt. Man könne das zwar überprüfen, es wäre wegen der Gefahr einer unkontrollierten Ausbreitung der Milzbranderreger jedoch schwierig.

Verhinderte eine Fehleinschätzung ein Wettrüsten mit B-Waffen?

Der Stabschef der Heeres-Sanitätsinspektion, Generalarzt Hans Wagner, schloss sich dem nicht nur an, sondern gab zudem ein horrendes Fehlurteil ab. Beim Menschen spiele Milzbrand „keine besonders wesentliche Rolle“. Das widersprach völlig der Lehrbuchmeinung: Wollte der Generalarzt mit dieser „alternativen Wahrheit“ vielleicht verhindern, dass das bis dato nicht in biologische Kriegsvorbereitungen involvierte Deutschland sich hier auch beteiligte? Das bleibt Spekulation.

Die negativen Bewertungen waren ausschlaggebend. Der für den Biokrieg zuständigen Inspektion der Nebeltruppen wurde am 26. September 1938 vorgeschlagen, „von Versuchen zunächst Abstand zu nehmen“. Die stimmten zu.

Erst Ende 1940, nach der Entdeckung des französischen Biowaffen-Programms im Zuge der Eroberung Frankreichs, nahmen die Deutschen unter Kliewe bescheidene eigene Aktivitäten auf diesem Gebiet auf, auch mit Milzbranderregern und unter Verwendung der französischen Protokolle. Aber das wurde dann vor 75 Jahren gestoppt.

Erhard Geißler ist Gastwissenschaftler am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin-Buch. Mehr zum Thema findet sich in seinem Buch „Anthrax und das Versagen der Geheimdienste“, Homilius-Verlag Berlin.

Erhard Geißler

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